Britisches Flüchtlingsabkommen mit Ruanda Ein »beschämend grausamer« Deal

Die Regierung in London will Asylbewerber, die auf Booten über den Ärmelkanal kommen, künftig direkt ins zentralafrikanische Ruanda verfrachten. Ein absurder Deal zu einem hohen Preis.
Eine Analyse von Heiner Hoffmann, Nairobi
Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta nach der Unterzeichnung des Abkommens

Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta nach der Unterzeichnung des Abkommens

Foto: Cyril Ndegeya / Anadolu Agency / Getty Images
Globale Gesellschaft

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»Hope«, also »Hoffnung«, heißt das Hostel in Ruandas Hauptstadt Kigali, in dem die Geflüchteten untergebracht werden sollen. Der Zynismus, ob beabsichtigt oder nicht, ist bemerkenswert. Den versammelten internationalen Medien wird am Donnerstag die geplante Bleibe für die Geflüchteten aus Großbritannien präsentiert: frisch gemachte Betten, meist zwei pro Zimmer, Klo und Dusche auf dem Gang. Fehlen nur noch die neuen Gäste.

Man versetze sich kurz in die Rolle eines Asylbewerbers aus, sagen wir, Somalia: Erst quer durch die Sahara, von dort weiter Richtung Europa, dann über den Kanal nach England. In Dover warten dann plötzlich Grenzbeamte, die einen in den nächsten Flieger nach Ruanda setzen – ein zentralafrikanisches Land, dass die wenigsten Geflüchteten je vorher zu Gesicht bekommen haben dürften. Dort ist dann im Hostel »Hoffnung« Endstation.

Genau das sieht die neue »Migrationspartnerschaft« zwischen Ruanda und Großbritannien vor. In Ruanda soll der Asylantrag der Geflüchteten geprüft werden – allerdings nicht mit dem Ziel, sie zurück nach Europa zu bringen. Stattdessen sollen die Migranten in Ruanda bleiben, dort eine Ausbildung erhalten, Unterkunft und Verpflegung gestellt bekommen – auf Kosten der britischen Regierung. Aus den Augen, aus dem Sinn. Natürlich dürften sie auch jederzeit in ihr Heimatland zurückkehren, betont der ruandische Außenminister. Im Gegenzug will Großbritannien einige wenige besonders vulnerable Flüchtlinge aufnehmen, die sich derzeit in Ruanda aufhalten.

Geflüchtete versuchen auf den Zug Richtung England zu gelangen

Geflüchtete versuchen auf den Zug Richtung England zu gelangen

Foto: Yoan Valat/ dpa

Diesen neuen Deal haben am Donnerstag vor Ostern die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta vorgestellt. Vor allem junge alleinreisende Männer sollen konsequent nach Afrika verfrachtet werden, statt im Vereinigten Königreich jemals eine Chance auf Asyl zu erhalten. Die britische Regierung hat das Abkommen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter großflächig gefeiert, inklusive eines Videos von Premierminister Boris Johnson beim Besuch einer Grenzschutzeinheit.

Den Zweck des Deals versucht die Regierung erst gar nicht zu verschleiern: »Wir hoffen, das wird ein starkes Abschreckungsmittel«, sagt der Premier im Video vor Hubschraubern, als befände sich das Land im Krieg. Die Innenministerin Priti Patel redet auf einer Pressekonferenz in Kigali gefühlt hundertmal von »bösen Schleusern«, denen das Handwerk gelegt werden müsse. Das bisherige System sei kaputt, daher müsse ein neues her. Der Deal zwischen Ruanda und Großbritannien sei eine »Weltpremiere«.

Seit Monaten haben die beiden Regierungen das Abkommen ausgehandelt. Selbst eingefleischte Diplomaten vor Ort konnten sich kaum vorstellen, dass die verwegene Idee am Ende tatsächlich Realität werden könnte. Sie wurden eines Besseren belehrt. Innerhalb weniger Wochen sollen bereits die ersten Betroffenen in Richtung Süden geschickt werden.

Die Kritik folgte prompt und breitflächig: Mehr als 160 Nichtregierungsorganisationen bezeichneten den Deal in einem gemeinsamen offenen Brief als »beschämend grausam«, Amnesty International nennt ihn »den Höhepunkt der Verantwortungslosigkeit«. Experten und die Opposition bezweifeln zudem, dass ein solches Vorgehen juristisch Bestand haben wird, geschweige denn praktisch umzusetzen ist.

Denn nüchtern betrachtet gibt es mindestens zwei Hauptprobleme:

Zum einen verpflichtet internationales Recht Staaten dazu, Geflüchtete nicht einfach abzuweisen, insbesondere wenn das Zielland nicht als sicher gilt. Das Recht auf Asyl in Großbritannien wird mit dem Abkommen aber de facto ausgehebelt. Man kann fest davon ausgehen, dass es sehr bald zu ersten Klagen kommen wird und sich Gerichte der Sache annehmen werden.

Keine legalen Einreisemöglichkeiten nach Europa

Fest steht: Die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber in Großbritannien hatte im vergangenen Jahr Anspruch auf Schutz, nachdem sie das reguläre Verfahren durchlaufen hatten. Es handelt sich also mitnichten vor allem um Menschen, die das Asylsystem missbrauchen, wie es die Regierung gern darstellt. Sie per se als »illegale Migranten« zu bezeichnen, ist eine populistische Taktik – weil es für Asylbewerber gar keine legalen Einreisemöglichkeiten nach Europa gibt. Um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können, müssen sie britischen Boden betreten haben. Legale Möglichkeiten, zum Beispiel in Botschaften im Ausland Asyl zu beantragen, haben die europäischen Staaten, auch Großbritannien, bisher verweigert.

Innenministerin Priti Patel in Ruanda: Ein Deal, aber zu welchem Preis?

Innenministerin Priti Patel in Ruanda: Ein Deal, aber zu welchem Preis?

Foto: JEAN BIZIMANA / REUTERS

Das nun unterzeichnete Abkommen lädt mal wieder die Hauptlast der Migrationsbewegungen im globalen Süden ab. Schon jetzt bleiben die meisten Geflüchteten aus Afrika auf dem Kontinent, fliehen innerhalb des eigenen Landes oder in Nachbarländer. In Europa kommt nur ein kleiner Bruchteil an. Gleichzeitig zahlen europäische Länder immer weniger Geld, um die Menschen in den Flüchtlingslagern in Afrika versorgen zu können, in vielen Camps mussten bereits Essensrationen gekürzt werden. So sieht die Solidarität bisher aus, und nun will Großbritannien noch mehr Migranten in den Süden schicken.

Welches Interesse hat also Ruanda an solch einem Deal? Zum einen geht es ums Geld: Die britische Regierung verpflichtet sich im Gegenzug, in Ruanda zu investieren und die Kosten für die Neuankömmlinge zu übernehmen. Ruanda kennt solche Szenarien: Die EU finanziert bereits ein Flüchtlingslager südlich der Hauptstadt Kigali. Dort landen Geflüchtete, die in libyschen Migrantengefängnissen die Hölle durchlebt haben. Auch sie werden nicht aus Libyen direkt nach Europa oder Amerika gebracht, sondern erst mal in Ruanda geparkt. DER SPIEGEL war im vergangenen Jahr vor Ort, vor allem junge Männer hingen dort über Monate fest, weil kein anderes Land sie aufnehmen wollte.

»Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme«

Außer dem Geld hat Ruanda aber noch ein größeres Interesse: Anerkennung auf der politischen Weltbühne. Präsident Paul Kagame lässt keine Chance aus, sich als verlässlicher Partner zu präsentieren, sein Lieblingsslogan: »Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme.« Ruanda sieht sich als Musterland in der Region, die Straßen sind makellos, es ist sauber, überall entstehen neue Hochhäuser, ein Messezentrum zieht Veranstaltungen aus aller Welt an. Auch der ruandische Außenminister sagte auf der Pressekonferenz wieder: »Afrikaner sollten die Chance haben, ein sicheres und würdevolles Leben in Afrika zu leben.« Klingt gut, doch der Haken: Die Geflüchteten werden nun schlichtweg dazu gezwungen.

Ruanda ist keine Demokratie, zumindest keine reine. Kagame regiert autokratisch. Das Parlament, von internationalen Partnern immer wieder für seinen hohen Frauenanteil gefeiert, ist kaum mehr als eine Schauveranstaltung. Eine Opposition gibt es nicht, Regimegegner werden laut zahlreicher Berichte weggesperrt oder sogar umgebracht. Eine freie Presse gibt es nicht einmal im Ansatz. Lewis Mudge, Direktor für Zentralafrika bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, stellt fest: »Ruanda respektiert nicht einmal die grundlegendsten Menschenrechte. Jeder, der auch nur als ansatzweise kritisch gilt, kann zum Ziel werden. Auch die Rechte von Geflüchteten werden geringgeachtet.«

Ruanda beherbergt bereits zehntausende Geflüchtete, unter anderem aus dem Nachbarland Burundi

Ruanda beherbergt bereits zehntausende Geflüchtete, unter anderem aus dem Nachbarland Burundi

Foto: Dai Kurokawa/ dpa

All das weiß natürlich auch die britische Regierung, schließlich zeigte sie sich noch im vergangenen Jahr im Rahmen eines UN-Berichtes  »sehr besorgt angesichts der fortgesetzten Einschränkungen von bürgerlichen und politischen Rechten sowie der Medienfreiheit« in Ruanda.

Doch nun verkündet Innenministerin Patel in Kigali den neuen Deal und lobt Ruanda plötzlich als »Freund und Partner«, als »sicheres Land, das Rechtsstaatlichkeit gewährleistet.« Wie soll die britische Regierung jetzt noch Menschenrechtsverletzungen vor Ort anprangern? Der Deal fußt darauf, dass Ruanda als Demokratie gilt, in der niemandem Verfolgung oder Diskriminierung droht – sonst würde er rechtlich sofort platzen.

Mit jedem neuen Abkommen dieser Art sichert sich Ruanda also ein gezieltes Wegsehen der Länder aus dem globalen Norden. Doch diesen Preis ist die britische Regierung offenbar bereit zu zahlen – schließlich kommt der Antiflüchtlingsdeal auch innenpolitisch sehr gelegen, der Premierminister kann jede Ablenkung von der Partygate-Affäre gut gebrauchen. Auf Kosten der betroffenen Asylbewerber und der Menschenrechte.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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