Politische Krise in Zentralamerika »Guatemala funktioniert wie eine Kaffeefarm«

Guatemalteken fordern den Rücktritt von Präsident Alejandro Giammattei
Foto: LUIS ECHEVERRIA / REUTERS
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Lucia ist Hohn und Spott gewohnt. Seit ihrer Schulzeit haben sich Mitschüler über ihre Herkunft und ihren Nachnamen lustig gemacht – weil sie aus einer indigenen Familie kommt, den Quiché angehört. In Guatemala, einem kleinen zentralamerikanischen Staat mit nur rund 17 Millionen Einwohnern, leben die Bürger in Parallelwelten – und die Indigenen stehen in der Hackordnung ganz unten.
Bis zu 60 Prozent der Guatemalteken stammen von einer der mehr als 20 indigenen Gruppierungen im Land ab – doch sie haben kaum politische Mitspracherechte, viele bleiben über Generationen hinweg in der Armut gefangen. Die weißen Nachfahren der spanischsprachigen Eroberer bilden dagegen bis heute die politische und wirtschaftliche Elite, der Reichtum wird von wenigen Familien kontrolliert.
»Guatemala funktioniert wie eine Kaffeefarm: Der Herr, also die Oberschicht, bestimmt, wo es langgeht, und die Mitarbeiter, wie der Präsident, die Abgeordneten, die Justiz, setzen die Anweisungen um«, sagt Lucia. »Der Rest muss zu Löhnen schuften, von denen man nicht überleben kann, oder hungert.«

Tausende gehen für den Wandel in Guatemala auf die Straße
Foto: JOHAN ORDONEZ / AFPDie 30-jährige Guatemaltekin und viele andere haben genug von diesem System. Und dann verabschiedete die Regierung Ende November im Eiltempo und ohne öffentliche Debatte einen umstrittenen Haushaltsplan für 2021, wonach die Ausgaben im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektor gekürzt werden sollen und stattdessen korruptionsanfällige Wirtschaftsprojekte wie der Ausbau von Straßen geplant sind.
Nachdem ein Politiker ärmere Guatemalteken, die den Haushaltsplan kritisierten, verächtlich als »Bohnenfresser« verunglimpfte, bezeichnen sich nun Tausende online und offline ironisch als »Vereinte Bohnenfresser«, gehen in verschiedenen Regionen gegen das ungerechte System und die Korruption auf die Straße und fordern den Rücktritt von Präsident Alejandro Giammattei.
»Die Leute müssen seit 500 Jahren Diskriminierung, Ausbeutung und Diebstahl durch die Regierung ertragen«, sagt Lucia. »Vor allem die indigenen Völker und die Jüngeren sind Motoren des Protestes – wir haben nie erlebt, wie es ist, in Würde zu leben.« Die Regierung hat den Haushaltsplan zwar wieder zurückgezogen, um den »sozialen Frieden« zu wahren, doch das reicht vielen Bürgern nicht.

Unbeliebt: Viele wollen, dass Präsident Alejandro Giammattei zurücktritt
Foto: LUIS ECHEVERRIA / REUTERSSelbst in abgelegenen, indigenen Gemeinden finden derzeit weiter Streiks und Proteste statt: »Die Empörung über die Regierung hat sich mittlerweile in Wut verwandelt«, beobachtet Fernando Barillas, 45, von der Hilfsorganisation »Antigua al Rescate«, Antigua zu Hilfe.
Dieses Jahr haben die Coronakrise und Naturkatastrophen wie die Tropenstürme »Eta« und »Iota« das Elend weiter verschärft. Guatemala leidet seit Langem unter zu viel und zu wenig Wasser zugleich: Dürren und Überflutungen scheinen darum zu wetteifern, Ernten zu vernichten und den Ärmsten das Leben noch schwerer zu machen.
Die Regierung hatte zwar das Sozialprogramm »Bono Familia«, Familienbonus, aufgelegt, um die Folgen der Pandemie etwas abzumildern – doch die, die es besonders nötig hätten, erreichte es nicht.
Bedürftige sollten drei Zahlungen von jeweils 1000 Quetzal, rund 100 Euro erhalten. Barillas hält »Bono Familia« für das bisher beste Sozialprogramm der Regierung – zumindest in der Theorie. »Es hat wirklich Hoffnung geweckt«, sagt er – doch es sei »voller Planungsfehler« gewesen.
Haushalte konnten sich nur bewerben, wenn sie einen Stromzähler besitzen, denn ein gewisser Stromverbrauch galt unter anderem als Gradmesser der Bedürftigkeit – doch abgelegene Dörfer sind gar nicht ans Stromnetz angeschlossen, sodass ein Großteil der Hilfen in städtische Gebiete floss. Einer Umfrage zufolge wusste in vielen Gemeinden nur die Hälfte der Bewohner, wie sie sich für »Bono Familia« bewerben muss. Indigenen fehlen teils spanische Sprachkenntnisse, oder sie können nicht lesen und schreiben – dem Zensus von 2018 zufolge ist jeder Vierte in ländlichen Gebieten Analphabet. Viele haben zudem weder Internet noch Telefon.

Weiße Flaggen gegen den Hunger: Viele Menschen müssen in der Pandemie betteln gehen
Foto: Esteban Biba / imago images/Agencia EFEAuch Vicente Carrera findet, dass die Regierung falsche Prioritäten setzt. »Ich dachte lange, dass es ausreicht, meine Steuern zu zahlen, um ein guter Bürger zu sein«, sagt der 53-jährige Industriedesigner. Doch er will nicht länger zusehen, wie selbst in Guatemala-Stadt immer mehr Menschen obdachlos werden, betteln – und weiße Fahnen schwenken, mit denen sie signalisieren, dass sie hungern.
Mit Freunden hat Carrera die Initiative »Unidos contra la Corrupción«, Gemeinsam gegen die Korruption, gegründet, jede freie Minute widmet er dem Projekt. Die Mitglieder organisieren Treffen mit Gleichgesinnten, um Missstände zu analysieren, Strategien zu diskutieren. Sie suchen aber auch nach Wegen, wie sie politisch Einfluss nehmen können, knüpfen Kontakte mit unabhängigen Abgeordneten.
Carrera will selbst eine Partei gründen, die künftig mit anderen kleineren Fraktionen koalieren soll, die bereits im Parlament vertreten sind. Ihm schwebt eine breite Anti-Korruptions-Front vor, die unabhängig von wirtschaftlichem und politischem Geklüngel ist.
Die Uno-Kommission war so erfolgreich, dass der damalige Präsident sie aus dem Land warf
Er ist überzeugt, dass sich das System nur von innen heraus verändern lässt, weil die amtierenden Politiker immer Wege finden, um externe Kritiker zum Schweigen zu bringen. Das Beispiel der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) ist für ihn Inspiration und Warnung zugleich: Die Uno-Kommission war so erfolgreich, dass der damalige Präsident Jimmy Morales sie 2019 aus dem Land warf . Präsident Giammattei weigerte sich ebenfalls, das Mandat der Cicig zu verlängern, als er im Januar 2020 das Amt übernahm.
Zusammen mit Generalstaatsanwältin Thelma Aldana hatten die Mitarbeiter der Cicig bis dahin gegen Hunderte Personen ermittelt, darunter hochrangige Politiker wie der ehemalige Präsident Otto Pérez Molina, der 2015 zurücktreten musste. Auch ein Sohn und der ältere Bruder von Ex-Präsident Morales wurden verhaftet, die Anti-Korruptions-Jäger prangerten zudem illegale Parteispenden an und forderten, die Immunität von Politikern aufzuheben.
Vicente Carrera will das Erbe der Aufklärer weiterführen. Er setzt sich auch für die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung wie in Chile ein, die eine neue Verfassung ausarbeitet und unter anderem Wahlrecht, die Gründung von Parteien und öffentliche Dienste reformieren soll. »Es darf nicht sein, dass die Korruption sich durch alle politischen Institutionen zieht und niemand das kontrolliert«, sagt Carrera.

Abgehängt: Indigene Mädchen werden oft schwanger, während sie selbst noch Kinder sind
Foto: Jon G. Fuller / VWPics / imago imagesAuch Lucia wünscht sich eine neue Verfassung, an deren Ausarbeitung die indigenen Bürger Guatemalas maßgeblich beteiligt sein sollen – und sie engagiert sich für einen kulturellen Wandel in Guatemala. Die Architektin, die im Kulturbereich und als Künstlerin arbeitet, versucht die Guatemalteken aufzuklären, auf Probleme und Tabus aufmerksam zu machen, die Frauen Aufstieg und Teilhabe versagen – und die viele lieber verschweigen wollen.
»Es ist immer noch normal, dass kleine Mädchen mit zehn oder elf Jahren heiraten müssen«, regt sich Lucia auf – und Abtreibung sei verboten. Nur ein Bruchteil der indigenen Frauen darf zur Schule gehen, auf dem Land glauben viele bis heute, dass Frauen an den Herd gehören, lieber arbeiten oder Familien gründen sollen. »Aber der Machismo zieht sich durch das ganze System und ist nicht nur ein Problem in indigenen Dörfern.«
Die Guatemaltekin fordert, dass mehr indigene Frauen dasselbe Privileg bekommen wie sie: dass sie zur Schule gehen, studieren können – und dass sie die Zukunft ihres Landes auch politisch mitbestimmen können. Präsident Alejandro Giammattei weigert sich bisher zurückzutreten oder größere Zugeständnisse zu machen. »Die Regierung denkt, dass sie die Proteste aussitzen und ersticken kann, aber es ist nur eine Frage der Zeit«, glaubt Lucia.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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