Initiativen gegen häusliche Gewalt Wie digitale Fake-Shops Leben retten wollen

Die polnische Schülerin Krysia Paszko hilft Frauen, die bedroht werden, mit einem Facebook-Shop
Foto: WOJTEK RADWANSKI / AFP
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Verspielte Blumenbilder zieren den polnischen Facebook-Shop »Rumianki i bratki«, Kamillen und Veilchen. Die E-Commerce-Plattform bewirbt Naturkosmetika und verspricht Frühlingsgefühle: »Denken Sie daran – Veränderung ist wichtig. Vielleicht lohnt es sich, diesen Moment auszunutzen?«, heißt es in einer Anzeige für eine Creme. »Wir helfen Ihnen gerne dabei, für sich selbst zu sorgen!«
Doch es gibt hier nichts zu kaufen, der Shop ist nur ein Fake – dahinter verbirgt sich eine Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt. »Wir geben vor, ein ganz normaler Facebook-Shop zu sein, aber auf der anderen Seite des Bildschirms sitzt ein Kriseninterventionsteam«, sagt Krysia Paszko, die das Angebot zusammen mit einer befreundeten Grafikerin entwickelt hat.

»Rumianki i bratki« ist nur auf den ersten Blick ein Onlineshop auf Facebook
Foto: Rumianki i bratki / FacebookErhält ihr Team eine Anfrage, stellen die vermeintlichen Verkäuferinnen Fragen: Wie ist der Zustand Ihrer Haut? Wie reagiert Ihre Haut auf Alkohol? Brauchen Sie auch Kosmetika für Kinder? Es sind Codes – die Betreuerinnen des Webshops finden so heraus, ob die Frau, vielleicht auch Kinder akut gefährdet sind, ob ein gewalttätiger, betrunkener Partner sie bedroht. Und ob die Lage so brenzlig ist, dass sie sofort einschreiten müssen.
Die Pandemie zwingt Initiativen, die häusliche Gewalt bekämpfen, kreativ zu werden. Seit dem Ausbruch von Covid-19 ist die Gewalt gegen Frauen UN Women zufolge weltweit gestiegen. Viele Länder haben zwar mit neuen Hotlines reagiert oder bestehende Notrufdienste aufgestockt – doch sie helfen wenig, wenn Frauen mit ihren Peinigern zusammenleben und nicht unbeobachtet telefonieren können.
Ausgangssperren erhöhen oft den Stress und schränken den Bewegungsspielraum zusätzlich ein. Partner lesen oft jede Nachricht auf dem Handy oder am Computer mit – manche Frauen besitzen nicht einmal ein eigenes Telefon. Organisationen und Initiativen auf der ganzen Welt haben daher Codesysteme wie Fake-Bestellungen erfunden, um Betroffene heimlich zu unterstützen.

Frauen protestieren in Polen gegen häusliche Gewalt – und fordern von der Regierung bessere Schutzmaßnahmen
Foto: Beata Zawrzel / NurPhoto / Getty ImagesDie Warschauer Schülerin Krysia Paszko erfuhr im April 2020 in den Nachrichten von der Gewaltepidemie in ganz Europa, auch in Polen stiegen die Fälle häuslicher Gewalt mit dem Lockdown an. Als die damals 17-Jährige hörte, dass Apotheker in Frankreich die Polizei rufen, wenn Kundinnen eine »Maske 19« bestellen, ein Codewort für häusliche Gewalt, brachte Paszko das auf die Idee, ihren Fake-Webshop aufzusetzen.
Doch bald fluteten so viele Nachrichten die Facebook-Seite, dass Paszko sie nicht mehr allein in den Griff bekam. Sie suchte Hilfe – und fand sie bei Expertinnen der Warschauer Frauenrechtsorganisation Centrum Praw Kobiet (CPK) sowie weiteren Freiwilligen. Sie unterstützen Paszko nun bei der Betreuung der Seite und trennen echte Hilferufe von Nachrichten, in denen Interessierte tatsächlich Produkte bestellen wollen. Ausgebildete Psychologinnen chatten mit Frauen in Not – mehr als 300 Betroffene haben sich bereits an die Plattform gewandt.
Wenn diese in den Gesprächen bestimmte Codewörter benutzen, ein Produkt bestellen und ihre Adresse hinterlassen, alarmieren die Beraterinnen die Polizei. Manchmal helfen sie, andere Lösungen zu finden: Einer Frau schickte das Centrum Praw Kobiet ein Taxi vorbei und brachte sie und ihr Kind unter, bis sie zu ihren Eltern umziehen konnte. Sie hatte vorher keine Ausweichmöglichkeit gesehen – und kein Geld, um ihrem Mann zu entkommen.
In Lateinamerika soll Make-up Leben retten: Kolumbianische Aktivistinnen fordern Frauen dazu auf, sich unter dem Codewort »VendoMaquillaje« (»Ich verkaufe Make-up«) in sozialen Netzwerken oder per WhatsApp an sie zu wenden. »Wenn Sie mit Ihrem Peiniger isoliert sind und er Sie verletzt, schreiben Sie, bitten Sie um einen Eyeliner, der nach Hause geliefert werden soll, und schicken Ihre Adresse«, ermuntert die kolumbianische Organisation Nosotras Hablamos Opfer von häuslicher oder sexueller Gewalt. Das Netzwerk, dem sich mehr als 100 Frauen angeschlossen haben, verständigt dann die Behörden.
Das Kollektiv Proyecto Fem Reynosa in der mexikanischen Grenzstadt Reynosa sieht sich ebenso als Bindeglied zwischen Frauen in Not und der Polizei – es schaltet sich ein, wenn jemand nach einem bestimmten Lippenstift fragt. »In der Pandemie mussten die großen Fabriken hier an der Grenze schließen, viele haben ihre Arbeit verloren«, sagt eine Mitarbeiterin. »Frauen waren Tag für Tag mit ihren brutalen Partnern eingesperrt, die immer aggressiver wurden.« Das Kollektiv alarmiert aber nicht nur die Polizei, sondern begleitet die Frauen auch bei der Anzeige und unterstützt sie mit juristischer und psychologischer Hilfe.

In südafrikanischen Townships werden »Koesiesters«, ein donutähnliches Gebäck, zu einem Codewort für häusliche Gewalt
Foto: Per-Anders Pettersson / Getty Images»Wenn jemand fragt, wie teuer die Donuts sind, weiß ich, dass ich sofort eingreifen muss«
Sogar Donuts spielen eine Rolle im Kampf gegen die Gewalt: In den südafrikanischen Armensiedlungen rund um Kapstadt, den Cape Flats, sind »Koesiesters«, ein lokales Donut-ähnliches, klebriges Gebäck, eine beliebte Süßigkeit. Caroline Peters und ihre Mitstreiterinnen von der lokalen Frauenbewegung Cape Flats Women’s Movement halten mit gefährdeten Frauen Kontakt, indem sie in WhatsApp-Gruppen vorgeblich über »Koesiesters«-Deals verhandeln.
Sie haken immer wieder nach, ob die »Kundinnen« weiter Gebäck kaufen wollen. Lehnen die Frauen ab, hat sich ihre Lage beruhigt. Konkrete Preisverhandlungen sind dagegen ein Alarmsignal: »Wenn jemand fragt, wie teuer die Donuts sind, weiß ich, dass ich sofort eingreifen muss«, erklärt Peters. Die Adressen von Township-Bewohnerinnen, die sich vor gewalttätigen Partnern fürchten, hinterlegt sie in einer Datenbank – sodass sie im Notfall schnell darauf zugreifen und die Polizei benachrichtigen kann.
Manchmal seien die WhatsApp-Helferinnen Peters zufolge aber schneller vor Ort als die Polizei. Häusliche und sexuelle Gewalt gilt in Südafrika unter Sicherheitskräften noch als privates Problem – zudem ist die Präsenz der Sicherheitskräfte in den ärmlichen Townships, die von Straßengangs kontrolliert werden, ohnehin gering.

Apotheken können für Betroffene von häuslicher Gewalt Soforthilfe vor Ort leisten
Foto: Victor Lerena / Agencia EFE / imago imagesCodes gegen häusliche Gewalt sind ein Balanceakt: Damit die Systeme funktionieren, müssen sie sich unter betroffenen Frauen herumsprechen – werden sie zu bekannt, könnten jedoch auch die Täter davon erfahren. In Südafrika hat Peters bereits neue Codes entwickelt, mit denen sie verdeckt kommunizieren kann.
Die digitalen Initiativen können wichtige Wege sein, um Opfer von häuslicher Gewalt – auch über die Pandemie hinaus – zu Hause zu erreichen. Allerdings sind es je nach Land teils eher jüngere Frauen, die von den Online-Angeboten erreicht werden können. Da nicht alle Frauen Zugang zum Internet haben, fordern Expertinnen für häusliche Gewalt den Ausbau niedrigschwelliger Offline-Angebote wie »Maske 19«. Inzwischen leisten Apotheker nicht nur in Frankreich, sondern auch in Teilen von Spanien, Argentinien, Kolumbien oder in Deutschland Soforthilfe, wenn Frauen das Codewort nennen.
Der deutsche Ableger der Frauenrechtsorganisation Zonta International setzt sich dafür ein, das Hilfsangebot auch hierzulande noch flächendeckender zu verbreiten. »Bei dem knappen einprägsamen Codewort Maske 19 geht es darum, dass Betroffene sich rasch Hilfe holen können, ohne eine traumatisierende Situation erklären zu müssen«, sagt Karin Lange, Sprecherin der Union deutscher Zonta Clubs. Rund 150 Apotheken sowie rund 120 Arztpraxen in mehreren deutschen Bundesländern hätten die Zonta-Clubs der Sprecherin zufolge bereits überzeugt mitzumachen. Im Vergleich zu Spanien ist die Abdeckung in Deutschland aber noch gering: Dort können Frauen in Not bereits in rund 16.000 Apotheken gehen und »Maske 19« bestellen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.