Kollabierender Karibikstaat Haiti Im permanenten Ausnahmezustand

Ein Gangmitglied zielt mit einer imaginierten Waffe auf einen Rivalen von einer verfeindeten Gang in Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti
Foto: Rodrigo Abd / AP
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Niemand ist sicher in Haiti. 789 Entführungen gab es dort seit Beginn dieses Jahres, Weltrekord. Es kann jeden treffen, Geschäftsleute, Kinder, Putzpersonal. Die Lösegelder liegen zwischen 50 Dollar und einer Million.
Besonders dramatisch ist die Lage, seitdem im Sommer der amtierende Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde: Die Gangs konnten seither ihre Macht noch ausbauen. »Innerhalb weniger Monate ist die Situation eskaliert«, sagt Annalisa Lombardo von der Welthungerhilfe vor Ort. Untereinander verfeindete Gruppen kontrollieren Wohnviertel in Port-au-Prince, Straßen, den Hafen und den Zugang zu Brennstoffvorräten.
»Armut gab es in Haiti schon immer«, sagt Christina Böhrer von Ärzte ohne Grenzen (MSF), »aber was die Menschen wirklich bricht, ist die ständige Gefahr und Gewalt.« MSF betreibt mehrere Kliniken im Land. Allein in einer Notfallklinik in der Hauptstadt wurden zuletzt rund 30 Schussverletzungen pro Woche registriert und behandelt.

In einer Schule, die zu einem permanenten Flüchtlingslager umfunktioniert wurde, leben Menschen, die vor der Ganggewalt aus ihren Wohnvierteln geflohen sind
Foto: Rodrigo Abd / AP19.000 Menschen mussten in der Metropolregion von Port-au-Prince seit August vergangenen Jahres fliehen, als die Bandengewalt schon einmal eskalierte. Sie mussten ihre Häuser verlassen, weil es dort zu gefährlich wurde. Heute leben sie in völlig überfüllten Gebäuden und Hallen in den Armenvierteln der Stadt.
Haiti ist ein Staat im permanenten Ausnahmezustand: Das Land ist eines der ärmsten der Welt. Zuletzt zerstörte wieder ein Erdbeben im Sommer 2021 rund 130.000 Häuser im Südwesten. Viele Familien sind noch immer obdachlos. Zusätzlich wurden aus den USA seit September rund 8000 Haitianerinnen und Haitianer zurück in ihre Heimat abgeschoben.
Der Fotograf Rodrigo Abd hat Haitis Hauptstadt vier Wochen lang besucht. Er fotografierte Waisenhäuser und Gangs, aber auch Geschäftsleute und Models. »Mir war es wichtig, nicht nur Elend und Leid zu fotografieren«, sagt Abd. Er wolle auch zeigen, »wie Menschen versuchen, in diesem Land so etwas wie ein normales Leben aufrechtzuerhalten«.

Ein Model posiert auf einem Billard-Tisch in der Hauptstadt Port-au-Prince
Foto: Rodrigo Abd / APDoch sein Job war nicht einfach: »Die meisten Menschen wollten ihre Gesichter nicht mehr fotografieren lassen«, sagt Abd, der das Land schon vor Jahren bereiste. Sogar die Gangmitglieder hätten Angst. Außerdem gebe auch einen allgemeinen Vertrauensverlust: »Die Leute haben einmal daran geglaubt, dass Bilder ihnen helfen können. Dass die Präsenz ausländischer Akteure und Organisationen ihnen helfen kann«, so Abd, »aber sie wurden bitterlich enttäuscht. Ihre Leben sind nicht besser geworden, sondern nur noch schwieriger.«

Leben in Haiti: Niemand ist sicher
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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