Ermordung von Haitis Präsident Moïse Staat der Gewalt

Staatschef Moïse (M., Archivbild): Bereits im Februar sei ein Anschlag auf sein Leben vereitelt worden sein.
Foto:JEAN MARC HERVE ABELARD / EPA
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Die Mörder kamen um ein Uhr morgens, eine größere Gruppe in dunklen Uniformen mit schweren Waffen. Ein vor Angst erstarrter Nachbar hält den Überfall auf die Residenz von Haitis Staatschef Jovenel Moïse in Pelerin, einem der besseren Vororte von Port-au-Prince, auf einem Handyvideo fest. Es dauert nur 35 Sekunden. Der Anführer des Killerkommandos behauptet darin in US-amerikanisch klingendem Englisch, die nächtliche Aktion sei eine Operation der US-Antidrogenbehörde DEA. »Alle zurücktreten, DEA-Operation«, brüllt er.
Haitianische Regierungsbeamte dementierten das später. Sie behaupteten, die Mörder Moïses seien »Söldner« gewesen.
Die offenbar auch mit Handgranaten ausgerüsteten Angreifer verschafften sich am frühen Mittwochmorgen Zutritt zum Anwesen des Politikers und erschießen den 53-jährigen. Seine Frau Martine liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Moïse war seit Anfang 2017 im Amt und regierte seit Februar auf der Basis von Dekreten. Seine politische Legitimation war schon lange umstritten, er sah sich immer öfter mit gewaltsamen Protesten konfrontiert.
US-Präsident Joe Biden sagte, er sei »schockiert« von dem Mordanschlag. »Wir verurteilen diesen abscheulichen Akt«. Er wünsche der verwundeten Ehefrau des getöteten Präsidenten schnelle Genesung, teilte er mit.
Haiti droht ein gefährliches politisches Vakuum
Mindestens so groß wie die Sorge um Martine Moïse dürfte Bidens Sorge um die politische Stabilität des Inselstaats sein. Das ohnehin seit Jahrzehnten schwer von Gewalt gezeichnete Karibikland könnte durch das Attentat noch tiefer ins Chaos und eine Spirale der Gewalt fallen. Denn Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt, hat keinen Politiker, der umgehend die Nachfolge des ermordeten Staatschefs antreten könnte.
Erst Anfang dieser Woche hatte Moïse mit Ariel Henry einen neuen Premierminister berufen, der das Land in den kommenden zwei Monaten auf Wahlen vorbereiten sollte. Henry ist aber noch nicht vereidigt, also formal nicht im Amt. Aktuell gibt es auch keinen Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, der laut Verfassung jetzt Interimspräsident werden würde. Gerichtspräsident René Sylvestre verstarb vergangene Woche an den Folgen einer Corona-Infektion. So droht Haiti nun ein gefährliches politisches und verfassungsrechtliches Vakuum.
»Es gibt auf diese Situation keine Antwort in der Verfassung«, sagte der frühere Justizminister Bernard Gousse. Auch die Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Haiti, Annalisa Lombardo, zeigt sich besorgt: »Es gibt eine institutionelle Leerstelle, die in der jetzigen Situation nicht zu füllen ist. Es ist schwer vorherzusagen, was passiert« sagte Lombardo dem SPIEGEL.

Sicherheitskräfte auf dem Anwesen des ermoderten Präsidenten am Morgen nach dem Anschlag.
Foto: JEAN MARC HERVE ABELARD / EPAAm Mittwochmorgen (Ortszeit) erwachte das Land in einem Schockzustand. Kaum jemand ging auf die Straße, internationale Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe hielten ihre Büros geschlossen. Spekulationen über die Drahtzieher des Anschlags überschlugen sich. Einige Politiker hielten es für möglich, dass der Mord auf das Konto der Drogenmafia gehe.
Die Opposition und Teile der in Protestbewegungen organisierten Zivilgesellschaft warfen Moïse, einem ehemaligen Bananen-Unternehmer, in der Vergangenheit Amtsanmaßung, Korruption und enge Verbindungen zu kriminellen Banden vor. Seit mehr als einem Jahr kam es immer wieder zu Demonstrationen und gewaltsamen Protestkundgebungen gegen seine Regierung und die desolate Sicherheitslage im Land. Erst im Februar hatte Moïse behauptet, einen Mordanschlag auf ihn und einen anschließenden Putsch verhindert zu haben.
Unmut über die Dauer von Moïses Amtszeit
Damals sorgte ein Streit um die Dauer seiner Amtszeit für Unmut, sie war nach Lesart seiner Gegner im Februar abgelaufen. Der Präsident selbst ging jedoch davon aus, dass sein Mandat erst am 7. Februar 2022 ende. Die Präsidentenwahl vom Oktober 2015, bei der Moïse im ersten Wahlgang gewählt worden war, wurde wegen Betrugs annulliert. Ein Jahr später wurde er in der zweiten Runde der Wiederholungswahl zum Sieger erklärt und schließlich am 7. Februar 2017 vereidigt. Nach seiner Auffassung hatte seine Amtszeit erst dann begonnen – und hätte somit noch bis ins nächste Jahr angedauert Die neue US-Regierung und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatten Moïses Lesart unterstützt.
Die Opposition hingegen wollte eine »Übergangskommission«, die aus den Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs einen Übergangspräsidenten bestimmen soll. Dieser hätte dann innerhalb von zwei Jahren Wahlen organisieren müssen. Moïse hingegen wollte ein Referendum abhalten lassen, um das Verbot der Präsidenten-Wiederwahl abzuschaffen, das seit dem Ende der Duvalier-Diktatur von 1986 gilt. Der nun getötete Staatschef hatte sich in die historisch lange Galerie der Mandatsträger Haitis eingereiht, die ihr Amt zur Selbstbereicherung und zum Festklammern an der Macht nutzen wollten. Moïse soll unter anderem erhebliche Summen eines Hilfsfonds aus dem venezolanischen Programm »Petrocaribe« eingesteckt haben.
Die Konfliktparteien in Haiti stünden sich so feindselig gegenüber, dass es keine Chance für einen Kompromiss gebe, kritisierte bereits im Februar die Analystin Alexandra Filippova vom »Institute for Justice & Democracy in Haiti«. Das seien beunruhigende Vorzeichen, unterstrich die Expertin damals. Ihre Befürchtung hat sich nun leider bewahrheitet.
Die aktuelle Krise im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre hat ihren Ursprung im Juli 2018, als Moïse über Nacht die Benzinpreise um bis zu 50 Prozent erhöhte. Spätestens an diesem Punkt verlor die Bevölkerung das Vertrauen in den Präsidenten, der als Günstling seines Vorgängers Michel Martelly ins Amt gewählt worden war.
Der von Anfang an umstrittene Moïse hatte es in kurzer Zeit geschafft, alle gesellschaftlichen Bereiche gegen sich aufzubringen: Kirche, Unternehmer, Frauenverbände, Gewerkschaften, Künstler, selbst Teile der Polizei haben sich in den vergangenen Jahren und Monaten an den Protesten gegen den ungeliebten Regenten beteiligt.

Moïse mit Ehefrau Martine kurz nach seiner Amtsübernahme im Jahre 2017: Die Präsidentengattin schwebt nach dem Anschlag in Lebensgefahr
Foto: ORLANDO BARRIA / EPAZusätzlich leidet Haiti seit Kurzem unter einer selbst für dieses Land ungewohnt großen Zunahme an organisierter Bandengewalt. Bewaffnete Gruppen terrorisieren seit Monaten mit Entführungen und territorialen Konflikten die Bewohner der Millionenhauptstadt Port-au-Prince.
Die eskalierende Gewalt der Milizen schlug im vergangenen Monat mehrere tausend Menschen in die Flucht und machte sie zu Binnenvertriebenen. Von Januar bis Juni fielen laut Informationen der Uno 159 Menschen in Haiti der Bandengewalt zum Opfer. Die Nichtregierungsorganisation »Défenseurs Plus« zählt sogar mehr als 400 Tote.
Vor einigen Wochen hatte zudem das Uno-Kinderhilfswerk Unicef davor gewarnt, dass dieses Jahr mehr Haitianer und Haitianerinnen von Hungersnot betroffen sein könnten. Mehr als 86.000 Kinder unter fünf Jahren – doppelt so viele wie im Vorjahr – seien von ernsthafter Unterernährung bedroht. Insgesamt laufen 4,4 Millionen Haitianer Gefahr, in sogenannte Nahrungsunsicherheit zu fallen. 60 Prozent der gut elf Millionen Einwohner leben in Armut.
Wer ihre Geschicke künftig lenken wird, bleibt nach dieser Mordnacht bis auf Weiteres unklar. Ebenso wie die Identitäten und Motive der Attentäter.