Geflüchtete Hongkonger in Taiwan Sicherheit auf Zeit

Ian Chang an der Chè-Lâm-Kirche in Taipeh: Von Hongkong nach Taiwan abgesetzt
Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGELDer Hongkonger Rebell ist fürs Erste außer Gefahr, doch seine Erlebnisse aus dem Straßenkampf wirken nach, das ist offensichtlich. In Taiwans Hauptstadt Taipeh sitzt der 20-Jährige in einem Hinterzimmer der presbyterianischen Kirche an der Zhongshan South Road, mitten im Regierungsviertel. Er macht einen etwas abwesenden Eindruck, seine Haut ist unrein, das Haar heute nicht gewaschen, die Augenlider auf Halbmast.
Er stehe oft erst am Nachmittag auf, erzählt der junge Mann, der hier Ian Chang heißen soll. "Manchmal können wir nicht schlafen, also nehmen wir Pillen", sagt er über sich und seine beiden Mitbewohner, die ebenfalls von Hongkong nach Taiwan geflüchtet sind. "Wir leiden alle an einer posttraumatischen Belastungsstörung."
In seiner Heimat habe er sich mit Polizisten geprügelt, Tränengas, Pfefferspray und ein Gummigeschoss abbekommen, erzählt Chang. Er habe an der Belagerung des Hongkonger Polizeihauptquartiers teilgenommen und am 1. Juli mit weiteren radikalen Protestierenden den Legislativrat gestürmt. Dort habe er den Slogan "Unabhängigkeit für Hongkong" an die Wände des Gebäudes gesprüht. Die Besetzung des Hongkonger Parlaments war die ultimative Provokation, ein Meilenstein der Proteste. Weil er fürchtete, von der Polizei enttarnt worden zu sein, setzte er sich wenige Tage später nach Taiwan ab. So erzählt er es nun.

Bild auf Changs Smartphone: Hämatome am Oberschenkel
Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGEL"Taiwan hat das, wofür wir kämpfen", sagt er: "Freiheit und Demokratie."
Die einzige liberale Demokratie im chinesischen Kulturkreis
In der Tat ist Taiwan die einzige liberale Demokratie im chinesischen Kulturkreis. Am Samstag wird dort gewählt. Alles sieht nach einer zweiten Amtszeit für Präsidentin Tsai Ing-wen aus: Sie steht für einen Kurs, der Taiwans Eigenständigkeit betont und die Volksrepublik auf Distanz hält. Im Wahlkampf ließ sie keinen Tag verstreichen, ohne die Taiwaner an das abschreckende Beispiel Hongkong zu erinnern, wo sich die Protestbewegung gegen den wachsenden Einfluss Pekings stemmt.
Die Misere der Stadt nützt Tsai politisch. (Lesen Sie hier mehr über den Hongkong-Faktor bei der Wahl.) Dennoch darf man Tsai ihre Solidarität mit den Hongkonger Aktivisten abnehmen: Ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) entstand aus der Opposition zur Diktatur, die jahrzehntelang über Taiwan herrschte.
Praktische Unterstützung erhalten die Geflüchteten von der Regierung in Taipeh aber kaum. Sie sind auf zivilgesellschaftliche Helfer angewiesen, um in Taiwan anzukommen. "Es ist Gottes Auftrag an die Gläubigen, ihren Nächsten zu lieben und ihm zu helfen, wenn er in Not ist", sagt Kong Chao-hsun. Der bullige, glatzköpfige Mann mit dem schüchternen Lächeln ist Mädchen für alles in der presbyterianischen Chè-Lâm-Gemeinde, die neben vielen anderen Hongkongern auch Ian Chang betreut.
Es sei eine politische Gemeinde, sagt Kong, die sich auch für Umweltschutz oder Minderheiten engagiere. Als die Mitglieder im Fernsehen sahen, wie Polizisten in Hongkong Demonstranten niederknüppelten, organisierten sie Helme. Als die Polizei Tränengas einsetzte, schickten sie Atemschutzmasken, erzählt Kong. Die Gemeinde pflege eine langjährige Beziehung zu einem Hongkonger Theologen, mit dem sie den Bedarf koordinierte. Er sei es gewesen, der die ersten Schutzsuchenden zu ihnen schickte.
"Ich stehe definitiv auf einer Liste"
"Zuerst kamen Hongkonger Kirchgänger", berichtet Kong. "Von da an nahm das seinen Lauf. Das ist eine enge Gemeinschaft, die reden alle miteinander." Bisher, schätzt er, habe seine Gemeinde sich um rund hundert Hongkonger gekümmert, mit Zuspruch, Geld, medizinischer Versorgung, einem Bett im Hostel. Manche hätten nur eine Weile ausruhen wollen und seien dann wieder nach Hause zurückgekehrt. Andere blieben.
Wie Ian Chang. Kurz nach seiner Flucht habe die Polizei seine Hongkonger Wohnung durchsucht - das bedeute, dass sie seine Identität kenne. "Ich stehe definitiv auf einer Liste", sagt er. "Ich kann nicht zurück." Er müsse sich jetzt ein neues Leben im Exil aufbauen.
Als er in Taiwan eintraf, habe er nur einen Rucksack bei sich getragen. Darin Kleidung, sein Rechner und 400 Hongkong-Dollar - das sind weniger als 50 Euro. Das Krankenhaus der Presbyterianischen Kirche versorgte seine Blessuren. Bilder auf seinem Smartphone zeigen Hämatome groß wie Kuchenteller auf seinen Oberschenkeln. Die Gemeinde organisierte ihm und seinen Kameraden eine Wohnung, Unterstützer aus Hongkong zahlen die Miete.
Angewiesen auf die Kulanz der Behörden
Bricht in Hongkong mal wieder Gewalt aus, sitzen die Exil-Demonstranten tagelang vor dem Bildschirm. "Mir fehlt der gemeinsame Kampf mit den Brüdern und Schwestern", sagt Chang. "Ich fühle mich schuldig, wenn ich sehe, wie jemand zusammengeschlagen wird. Ich frage mich dann: Wieso bin ich nicht dort, um zu helfen?" Wird das Heimweh zu schlimm, kochen sie sich eine Eierspeise mit Bittermelone, eine Hongkonger Spezialität.

Weil er nicht erkannt werden möchte, lässt Chang sich nur mit Kapuze fotografieren, ohne sein Gesicht zu zeigen. Die schwarze Kleidung hat sich zum Markenzeichen der Hongkonger Protestierenden entwickelt. Er vermisse den gemeinsamen Kampf mit den "Brüdern und Schwestern", sagt Chang, und er fühle sich schuldig, weil er von seinem Exil aus wenig beitragen könne
Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGELChang würde in Taiwan gerne arbeiten und sein eigenes Geld verdienen – oder wie in Hongkong, wo er Chemie studiert hat, wieder zur Universität gehen. Doch dafür braucht er ein Arbeits- oder Studierendenvisum. Derzeit hat er den rechtlichen Status eines Touristen. Eigentlich hätte er nur für 30 Tage bleiben dürfen, doch die Behörden waren kulant.
Taiwan hat kein Asylgesetz. Und obwohl darüber mittlerweile debattiert wird, macht die Regierung bisher keine Anstalten, eins auf den Weg zu bringen. Zu viele Bedenken sind damit verknüpft: Würden dann Scharen Hongkonger – oder auch festlandchinesischer Dissidenten - nach Taiwan kommen? Würde Peking sich davon provoziert fühlen? Und wie viele chinesische Spione würden wohl auf diesem Weg eingeschleust?
Noch nicht in Sicherheit
Bisher werde von Fall zu Fall entschieden, sagt Chen Yu-fan, Anwältin und Sprecherin von Taiwan-Hongkong Legal Support. Dieser lockere Zusammenschluss von Juristen betreut derzeit 120 Hongkonger, darunter auch Chang, ohne dafür ein Honorar in Rechnung zu stellen. "Präsidentin Tsai unterstützt die Bewegung in Hongkong, deshalb zeigt sich die Verwaltung in diesen Fällen großzügig", sagt Chen.
Tsais Herausforderer bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen, Han Kuo-yu von der Nationalen Volkspartei (KMT), habe sich dagegen nie eindeutig aufseiten Hongkongs positioniert. "Aus unserer Sicht ist Han Pro-Peking", sagt Chen. "Sollte er gewinnen, fürchten wir, dass sich der Ansatz der Regierung ändert."
Auch dem Geflüchteten Ian Chang graust es bei dem Gedanken, dass Han den Sieg davontragen könnte. "Wir machen uns Sorgen, dass er uns als Geschenk an die Kommunistische Partei zurückschickt, falls er Präsident wird", sagt er.
Obwohl er jetzt auf Taiwan lebt, ist Chang noch nicht in Sicherheit.