Chinesisches Sicherheitsgesetz für Hongkong "Wir wissen nicht mehr, was wir noch dürfen und was nicht"

Bereitschaftspolizisten beim Einsatz gegen Demonstranten in Hongkong 2019
Foto: Achmad Ibrahim/ DPASPIEGEL: Herr Dapiran, viele Beobachter sehen in der Einführung des neuen Hongkonger Sicherheitsgesetzes das Ende einer Ära. Was macht es so bedeutsam?
Dapiran: Viele, viele Rechte und Freiheiten, die wir noch gestern in Hongkong genossen haben, genießen wir heute nicht mehr. Chinas Regierung macht sich daran, die Rolle Hongkongs als Ort der freien politischen Meinungsäußerung zu beenden. Schon der Gesetzestext an sich schränkt sie ein. Doch selbst wenn man die spezifischen Bestimmungen beiseitelässt, hat die Tatsache, dass das Gesetz sehr vage formuliert ist, eine weithin abschreckende Wirkung. Die Menschen haben Angst. Wir wissen nicht mehr, was wir noch dürfen und was nicht.
SPIEGEL: Sehen wir uns die Einzelheiten an. Welche Straftatbestände werden behandelt?
Dapiran: Es sind vier, nämlich Separatismus, Untergrabung der Staatsgewalt, Terrorismus und "geheimes Zusammenwirken" mit ausländischen Kräften. Alle diese vier Straftatbestände sind sehr weit gefasst. Terrorismus etwa umfasst demnach jede Art von gewaltsamer Handlung, die politisch motiviert ist - sei es Gewalt gegen Menschen, Brandstiftung, Vandalismus oder sonstige Aktivitäten, die die Gesundheit anderer oder die öffentliche Sicherheit ernsthaft gefährden.
SPIEGEL: Dass ein Staat solche Handlungen bestraft, ist allerdings naheliegend.
Dapiran: Selbstverständlich war es auch vorher schon in Hongkong illegal, Brände zu legen, eine U-Bahn-Station zu verwüsten oder Gegenstände zu werfen. Doch nun können die Behörden derlei als Verbrechen gegen die nationale Sicherheit werten. Zudem kann potenziell jeder, der auf irgendeine Weise mit Tatverdächtigen in Verbindung steht, strafrechtlich als Terrorhelfer verfolgt werden.
SPIEGEL: Geben Sie uns ein Beispiel.
Dapiran: Wenn ein Demonstrant einen Molotowcocktail wirft, kann nicht nur ihm unter dem Gesetz dafür der Prozess gemacht werden - sondern auch den Menschen, die ihm Geld gespendet haben, ihm bei Protesten Ausrüstung reichen oder ihn danach mit dem Auto nach Hause fahren.
Antony Dapiran, Anwalt in Hongkong
SPIEGEL: Nehmen wir an, ich errichte eine Straßenbarrikade. Welche Höchststrafe droht mir?
Dapiran: Das Gesetz besagt, dass all diese Verbrechen mit lebenslanger Haft bestraft werden können, wenn es sich um einen schweren Fall handelt. Bei aktiver Beteiligung kann die Freiheitsstrafe zwischen drei und zehn Jahren betragen, in leichteren Fällen bis zu drei Jahre. Wir wissen noch nicht, wo die Gerichte die Grenze ziehen werden.
SPIEGEL: Es ist bereits eine hitzige Debatte über Artikel 38 entbrannt. Was steht da drin?
Dapiran: Der Artikel 38 betrifft die Extraterritorialität. Er besagt, dass das Gesetz überall auf der Welt für jeden gilt, der eines dieser gegen Hongkong gerichteten Verbrechen begeht. Ich halte es allerdings für unwahrscheinlich, dass ausländische Regierungen einem Auslieferungsersuchen nach diesem Gesetz zustimmen würden.
SPIEGEL: Ist so ein Passus mit dem Völkerrecht vereinbar?
Dapiran: Nun, diese Herangehensweise ist in anderen Ländern jedenfalls nicht unbekannt. Besonders die USA sind dafür berüchtigt, dieses Prinzip in vielen verschiedenen Bereichen ihres Rechtssystems anzuwenden, vom Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) bis hin zu ihren Wertpapiergesetzen. Es ist aber das erste Mal, dass es in Hongkong zur Anwendung kommt.
SPIEGEL: Der Protest begann im vergangenen Jahr, um ein Gesetz zu verhindern, das Auslieferungen an die Volksrepublik China erlaubt hätte. Sind die nun möglich?
Dapiran: Ja, das sind sie. Wenn eine Tat eine ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellt, wenn es sich um einen komplexen Fall ausländischer Einmischung handelt oder wenn die Hongkonger Behörden aus einem anderen Grund nicht damit umgehen können, kann der Tatverdächtige auf das chinesische Festland gebracht und dort vor Gericht gestellt werden.
SPIEGEL: Ist es chinesischen Sicherheitsbehörden nun erlaubt, auf Hongkonger Territorium zu operieren?
Dapiran: Auch das trifft zu. Soweit ich weiß, handelt es sich um das Ministerium für Staatssicherheit, also die chinesische Geheimpolizei.
SPIEGEL: Damit ist nun jeweils so ziemlich die härteste Variante dessen, was vorher durchgesickert war, Wirklichkeit geworden. Gibt es auch irgendeinen Lichtblick?
Dapiran: Den einzig positiven Aspekt erkenne ich darin, dass das Gesetz nicht rückwirkend angewendet wird. Es gilt eindeutig nur für Handlungen, die von jetzt an getätigt werden.
Antony Dapiran, Anwalt in Hongkong
SPIEGEL: In Reaktion auf das Gesetz haben die USA bereits bestimmte Handelsprivilegien für Hongkong ausgesetzt. Was ändert sich?
Dapiran: Die USA haben den Export von Dual-Use-Technologie gestoppt. Das ist bisher das einzig wirklich Konkrete. Sie sagten zudem, sie hätten Reise- oder Visabeschränkungen für bestimmte Beamte eingeführt, aber es ist unklar, auf wen das zutrifft.
SPIEGEL: Was sollte Europa tun?
Dapiran: Sehen Sie, es ist schwierig. Das Gesetz ist ja bereits da. Man kann es nicht mehr verhindern oder ändern. Es ist sicher wichtig, darauf zu achten, wie es letztlich angewendet wird. Weiter in Hongkong als stark engagierter Beobachter präsent zu sein, ist eine wichtige Rolle für Europa.
SPIEGEL: Was halten Sie von Sanktionen?
Dapiran: Ich glaube nicht, dass Sanktionen irgendeine Wirkung hätten. Und ganz nebenbei bemerkt: Das neue Gesetz macht es illegal, Sanktionen gegen Hongkong und China zu fordern.