EU-Kommissar für Krisenmanagement »Es wird Zeit, dass die Menschlichkeit erwacht«

Eine ältere Frau vor ihrem zerstörten Haus östlich von Kiew
Foto: Aris Messinis / AFP
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Es sah lange gut aus: Die weltweite Armut sank in den vergangenen Jahrzehnten, der Hunger schien weitgehend besiegt, einige bewaffnete Konflikte konnten endlich befriedet werden. Doch jetzt ist der Hunger vor allem in Afrika zurück, der Klimawandel macht ganze Landstriche unbewohnbar. Und mitten in Europa tobt plötzlich ein irrsinniger Krieg.
Janez Lenarčič ist als EU-Kommissar für das globale Krisenmanagement der Europäischen Union zuständig, er plant humanitäre Einsätze und wirbt das Geld dafür ein. Laut Lenarčič ist der Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit so hoch wie nie. Gleichzeitig brechen immer mehr Geldgeber weg. Ab Montag hat die EU zum Humanitären Forum in Brüssel geladen, um diese Fragen zu besprechen.
Ein Interview mit einem Krisenmanager, der zunehmend verzweifelt.
DER SPIEGEL: Herr Lenarčič, lässt sich die humanitäre Katastrophe in der Ukraine in Worte fassen?
Lenarčič: Es ist das größte humanitäre Desaster seit dem Zweiten Weltkrieg, zumindest in Europa. Mehr als eine Million Flüchtlinge kommen momentan in die EU – pro Woche. Das ist einfach unfassbar. Eine Tragödie apokalyptischen Ausmaßes. Die Uno geht davon aus, dass bereits mehr als zwölf Millionen Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe benötigen, und die Zahl steigt täglich. Dazu kommen all die unschuldigen Zivilisten, die verwundet oder getötet werden.
SPIEGEL: Wie kann die EU auf diese humanitäre Katastrophe reagieren? Die belagerten Städte zum Beispiel können doch gar nicht versorgt werden, oder?
Lenarčič: Wir haben unsere humanitäre Hilfe für die Ukraine verdreifacht. Aber es stimmt, eines der Hauptprobleme ist der Zugang zu den Menschen in Not. Der ist vielerorts nicht möglich, vor allem wegen des Verhaltens der russischen Invasoren, denen internationale Normen schlichtweg egal sind. Unsere Partner arbeiten hart daran, mit beiden Seiten zu verhandeln, um den sicheren Zugang zu Menschen in Not zu gewährleisten. Auch Kriege haben Regeln – und die werden von der russischen Armee massiv verletzt.

Eine geflüchtete Ukrainerin sucht in Dresden unter Spenden neue Schuhe für ihre Tochter aus
Foto: Matthias Rietschel / REUTERSSPIEGEL: Ist der Bedarf an humanitärer Hilfe für die Ukraine überhaupt zu beziffern?
Lenarčič: Die Uno hat vor einigen Wochen einen ersten Finanzierungsaufruf gestartet, der bestand aus zwei Teilen: 1,1 Milliarden US-Dollar für die Ukraine selbst und 600 Millionen US-Dollar für Programme, die den Geflüchteten in den Nachbarländern der Ukraine zugutekommen sollen. Diese Summen sind bereits voll finanziert, das sollte laut Uno drei Monate lang reichen. Aber angesichts der ständig wachsenden humanitären Probleme müssen wir wahrscheinlich sehr bald drauflegen.
SPIEGEL: Gleichzeitig gibt es weltweit so viele humanitäre Krisen wie nie zuvor. Der Krieg im Jemen dauert an, dazu kommen Afghanistan und Syrien, am Horn von Afrika wütet eine schreckliche Dürre. Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Welt aus immer mehr Wunden blutet und Ihnen die Pflaster ausgehen?
Lenarčič: Ja, genau so fühle ich mich oft. Der humanitäre Bedarf ist weltweit explodiert, gleichzeitig wird die Finanzierungslücke immer größer. Wir erleben zahlreiche gewaltsame Konflikte, in Afrika sind zudem die Folgen der Klimakrise spürbar. Auch die Coronapandemie hat enorme Auswirkungen gehabt. Der Krieg in der Ukraine kommt nun zu all diesen Problemen noch hinzu. Schon vor diesem Krieg sind die Lebensmittel- und Benzinpreise gestiegen, das wird jetzt noch viel schlimmer. Die Ukraine als Kornkammer der Welt fällt aus und das gefährdet die Nahrungsmittelversorgung vieler Menschen.
SPIEGEL: Wird jetzt für die Nothilfe in der Ukraine Geld abgezweigt, das eigentlich für andere humanitäre Krisen vorgesehen war? Die Hilfsbudgets sind ja nicht endlos.
Lenarčič: Ich bestehe darauf, dass das nicht passieren sollte. Ich verstehe ja, dass die Haushalte der Geberländer strapaziert sind, auch wegen der gestiegenen Preise und der wirtschaftlichen Auswirkungen der russischen Aggression. Aber in solchen Zeiten sollten die Budgets für humanitäre Hilfe steigen, alles andere würden keinen Sinn ergeben – und wäre zutiefst unverantwortlich und unsolidarisch.
SPIEGEL: Aber in Somalia zum Beispiel wütet eine verheerende Dürre. Dort erzählen uns Uno-Mitarbeiter, dass es immer schwieriger werde, Gelder einzuwerben. Die Geldgeber führen auch den Krieg in der Ukraine als Grund für ihr Zögern an.
Lenarčič: Das sehe ich nicht. Im Gegenteil: Die EU hat jüngst für die Not im Jemen eine große Summe zur Verfügung gestellt. Das zeigt, dass wir andere Krisen nicht vernachlässigen. Der Krieg in der Ukraine kommt zu den anderen Krisen hinzu und ersetzt sie nicht.
SPIEGEL: Die Geldgeber-Konferenz für den Jemen war nicht gerade ein Erfolg. Nur ein Drittel der erhofften Mittel wurde am Ende eingeworben.
Lenarčič: Einige Geldgeber haben diesmal gar nichts beigetragen, das finde ich wirklich bedauerlich. Es herrscht eine gewisse Müdigkeit. Die Geldgeber hatten gehofft, dass die Krise im Jemen bald vorbei sein würde. So ist es nicht gekommen, und jetzt haben sie aufgegeben. Die Zahl der Geberländer wird generell immer kleiner: Eine Handvoll Geber leistet zwei Drittel der globalen humanitären Hilfe. Das kann so nicht weitergehen, andere müssen einspringen.

Mütter mit kleinen Kindern warten in Somalia auf Hilfsgüter und Lebensmittel
Foto:Yasuyoshi Chiba / AFP
SPIEGEL: In Somalia sind derzeit gerade einmal drei Prozent des errechneten humanitären Bedarfs finanziert.
Lenarčič: Ja, und die Finanzierungslücke wächst. Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Wir könnten die Mittel erhöhen, klar. Gleichzeitig könnten wir aber auch schauen, wie das Geld effizienter eingesetzt werden könnte. Und wir müssen die Ursachen der humanitären Krisen angehen. Das sind in der Regel bewaffnete Auseinandersetzungen, Armut oder Klimawandel.
SPIEGEL: Deutschland hat gerade einen neuen Haushalt vorgestellt – das Budget des Entwicklungsministeriums soll nach jetzigem Stand um 800 Millionen Euro schrumpfen. Davon betroffen wäre vor allem die sogenannte Übergangshilfe, die genau solche Maßnahmen finanziert, welche über reine Nothilfe hinausgehen. Diesen Trend gibt es auch in anderen Ländern.
Lenarčič: Dabei sollte es genau andersherum sein. Sie haben Somalia erwähnt: Der Premierminister des Landes hat mir im Jahr 2019 dafür gedankt, dass wir den Opfern schwerer Überflutungen geholfen haben. Aber dann hat er gesagt, dass es doch viel besser wäre, wenn wir Dämme bauen würden, um die betroffenen Gebiete längerfristig zu schützen. Das können wir jedoch nicht aus Mitteln der Nothilfe machen. Wenn unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Entwicklungszusammenarbeit nicht handeln, wird es wieder Überflutungen geben.
SPIEGEL: Sie haben den Klimawandel erwähnt – die Klimakrise macht schon jetzt Teile des afrikanischen Kontinents praktisch unbewohnbar. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, einen Kampf zu führen, den Sie gar nicht gewinnen können?
Lenarčič: O doch. Selbst wenn wir all die Kriege und bewaffneten Konflikte plötzlich beenden könnten, stünden wir immer noch dem Klimawandel gegenüber. Schon jetzt werden die Extremwetterereignisse wie Dürren und Fluten gerade in Afrika immer häufiger. Soll heißen: Wir haben schon genug Probleme, auch ohne diese ruchlose, unverantwortliche und kriminelle Aggression aus Russland. Es wird Zeit, dass die Menschlichkeit erwacht. Wir müssen die Gewalt beenden und gemeinsam an den Folgen der Klimakrise arbeiten, die uns ganz klar bevorstehen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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