Stimmen aus Idlib "Ein bis zwei Kinder sterben jeden Tag in unserem Krankenhaus"

Kinder in einem Flüchtlingscamp in Idlib: Es fehlt am Allernötigsten, Essen, Kleidung, Medikament
Foto: Burak Kara/ Getty Images
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Wenn der Krieg näher rückt, ist die Luft schwanger vom Echo der Raketen, berichten Menschen aus Idlib. Man könne Assads Kampfjets hören, wenn der Frontverlauf sich nach Norden verschiebe. Im Nachbardorf gingen dann die Raketen nieder.
Die Menschen in der Provinz Idlib fliehen zu Hunderttausenden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, sie verlassen ihre Häuser, ihre Dörfer, auf den Straßen Richtung Norden stauen sich die Autos und Lastwagen. Sie alle sind Vertriebene im eigenen Land, manche sind schon zwei, drei oder viermal weitergezogen. Menschen, die Diktator Baschar al-Assad und seine Verbündeten Russland und Iran vor sich hertreiben, einkesseln. Recht viel weiter nach Norden können die Menschen nicht fliehen. Die türkische Grenze ist geschlossen.
In den Camps fehlt es an Zelten, Lebensmitteln, Medikamenten. Das alles bei brutaler Kälte. Es ist die wohl letzte grausame Schlacht des syrischen Bürgerkriegs.
Da ist zum Beispiel Ibrahim, dessen Kinder dringend eine Operation brauchen. Doch Assad hat viele Krankenhäuser bombardiert, die Ärzte, sagt er, seien geflohen. Oder die 57-jährige Mariam. Sie sagt: "Stoppt endlich diese Gewalt!" Der SPIEGEL hat mit Geflüchteten gesprochen. Lesen Sie hier ihre Schicksale.
Mostafa Abo Tayr, 42, Bauarbeiter aus Sarmin
"Vor zwei Wochen drangen Assad-Truppen ungefähr neun Kilometer an unsere Stadt heran. Sie schossen auf unseren Ort. Die meisten Leute flohen. Aber ich habe kein Geld, ich kann mir kein Auto leisten, um mit meiner Frau und den Kindern zu fliehen. Ich habe sechs Söhne und Töchter, mein jüngster Sohn ist fünf Monate alt.
Dann traf eine russische Rakete unser Haus. Sie zerstörte fast alles, außer jenen Raum, in dem meine Familie und ich zusammensaßen. Wir überlebten, wie durch ein Wunder. Gott hat uns geschützt.
Dann musste alles ganz schnell gehen. Wir flohen aus dem Haus, ich trug meinen Sohn auf den Arm, alles war voll Rauch und Staub, wir konnten gar nicht richtig sehen, wohin wir gingen. Als wir die Straße erreichten, schlug ein zweites Geschoss im Ort ein und tötete acht Menschen. Da wusste ich, es gibt kein Zurück. Wir flohen in eine andere Stadt, ohne ein Dach über dem Kopf, wir schliefen in Hauseingängen, mit Kartons legten wir den kalten Boden aus.
Mittlerweile sind wir in einer Lagerhalle untergekommen, die zu einem Flüchtlingslager umfunktioniert wurde. Es gibt hier kein Essen, keine Decken, ich habe mich seit 15 Tagen nicht mehr waschen können. Frauen und Männer sind in dem Camp getrennt. Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein eigenes Zelt für meine Familie."
Lubna Saad, 28, Kinderärztin aus einem Vorort von Idlib-Stadt
"Immer wenn die Bomben fallen, überkommt meinen zweijährigen Sohn panische Angst. Wir haben alle Angst vor Assads barbarischer Armee. Als die Luftangriffe auf unser Viertel losgingen, kam ich gerade von einer Nachtschicht im Krankenhaus nach Hause. Wir flohen, so schnell es ging, ich nahm nicht einmal mein Hochzeitsfoto mit. Wir haben den Luftangriff dieser Nacht überlebt, aber die Wunden, die wir davontragen, werden nie ganz heilen.
Ich arbeite jetzt wieder in einem Krankenhaus und versorge dort Kinder. Viele leiden unter Bronchitis, viele haben seit Tagen nichts gegessen. Es gibt kaum Medikamente, vor allem die Milch, die wir unterernährten Babys geben, wird knapp. Ein bis zwei Kinder sterben jeden Tag in unserem Krankenhaus.
Mein Sohn und seine Cousins spielen nun oft "Vertreibung". Sie packen dann ihre Sachen ganz schnell zusammen und spielen, wie sie in einen neuen Ort flüchten.
Wir hatten Glück, haben nahe der türkischen Grenze in der Wohnung von Verwandten Zuflucht gefunden. Überall in der Stadt müssen Vertriebene mit ihren Kindern auf den Straßen oder in Moscheen schlafen, es gibt keine Zelte mehr zu kaufen.
Auf meine Fragen kann mir niemand Antworten geben: Wird das syrische Regime Idlib einnehmen? Wann wird es eine Waffenruhe geben? Wir haben keine Chance, unsere Zukunft zu planen, das ist das Schlimmste an der Situation. Wir wissen nicht, wo wir uns niederlassen können, wie wir leben werden, wie unsere Kinder aufwachsen werden."
Ibrahim Barakat, 26, aus Frakya in West Marat an-Numan
"Plötzlich sah ich eine Drohne über unserem Haus fliegen. Da wusste ich: Bald würden die Raketen auch unser Dorf treffen. So kam es. Eine Rakete zerstörte unser Haus.
Ich bat einen Freund, der bei der Hilfsorganisation Weißhelme arbeitet, mir ein Auto zu besorgen. Ich bin verantwortlich für eine große Familie. Meine beiden Kinder, drei Jahre und fünf Monate alt, meine Frau, meine Mutter, Tanten, Schwestern, die Schwiegermutter. Wir fuhren alle zusammen in einem Auto 150 Kilometer weit in die Stadt Azaz. Ein Onkel gewährt uns dort Unterschlupf in seinem Haus.

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Meine Kinder sind krank, seit der Geburt haben beide eine Fehlstellung an der Hüfte. Sie benötigen dringend eine Operation. Doch die Jets haben unser Krankenhaus zerbombt, die Ärzte sind geflohen, nur eine Krankenschwester ist geblieben.
Auch meine Mutter braucht regelmäßig medizinische Hilfe für ihre Niere, sie ist Dialyse-Patientin. Ich habe versucht, sie über Schlepper in die Türkei zu schicken, damit sie dort behandelt wird. Doch die Schlepper verlangten 2000 Dollar. Wie soll ich das bezahlen? Mein Monatslohn betrug 60 Dollar, und im Moment verdiene ich gar kein Geld."
Mariam Abdulkader, 57 Jahre alt, Hausfrau aus Atareb
"Ich wollte noch einmal ins Haus gehen, um ein paar Decken einzupacken, dann hörte ich den Donnerhall einer Rakete. Da konnte ich nicht mehr, ich weinte und weinte, ich hatte Angst, Panik, ich hörte die Kinder schreien, ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Mein Sohn musste mich aus dem Haus tragen. Wir haben nicht einmal die Haustür abgesperrt. Wir sind einfach losgefahren. Ich weiß noch, der Lastwagen war blau, ein Hyundai, die ganze Großfamilie musste darin Platz haben. Wir sind fast 30 Personen.
Die Straße war voll mit Autos und Lastwagen, ein ganzer Konvoi, ein Tross mit nur einem Ziel: Weg von der Front, weg von den Kampfjets, nach Norden. Wir flohen nach Tarmanin. Doch auch hier warteten die Raketen und der Tod. Also flohen wir weiter nach Afrin. Im Flüchtlingscamp vor der Stadt gibt es 140 Zelte für 600 Familien. Keine Chance für eine Großfamilie wie uns.
Wir sind nun in einem Zelt untergekommen, das eigentlich als Moschee diente.
Alles, was ich mir wünsche, ist ein Dach über dem Kopf und Sicherheit für meine Familie. Es ist mir egal, wer diesen Krieg beendet. Putin, Assad, Erdogan! Stoppt endlich diese Gewalt!
Zehn Jahre leide ich schon in diesem Land, viele meiner Freunde sind tot. Ich bin alt, ich habe keine Träume mehr."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.