Idlib-Offensive Erdogan greift an, Putin hält still

Erst bombte Russlands Luftwaffe eine Million Menschen in Idlib in die Flucht. Nun greift die Türkei die syrisch-russische Koalition massiv an. Und erreicht etwas, was der Westen seit sieben Jahren nicht zustande bringt.
Eine Analyse von Christoph Reuter, Beirut
Türkischer Militärkonvoi in Idlib - das Ziel: Die Armee von Machthaber Baschar al-Assad

Türkischer Militärkonvoi in Idlib - das Ziel: Die Armee von Machthaber Baschar al-Assad

Foto: Ghaith Alsayed/ AP

Am Sonntagnachmittag war innerhalb weniger Stunden erreicht, was schon 2013 der frühere US-Präsident Barack Obama jahrelang als zu gefährlich, zu schwierig verworfen hatte: die Schaffung einer Flugverbotszone über Syriens Aufstandsgebiet. Keine Luftattacken mehr auf Wohnviertel, Krankenhäuser, Märkte oder, wie zuletzt noch vor Tagen, zehn Schulen in einer Angriffswelle.

Gegen Mittag, nachdem die zwar angekündigte, aber in ihrer Heftigkeit überraschende türkische Offensive am Morgen begonnen hatte, verkündete die amtliche Nachrichtenagentur Sana aus Damaskus: "Der Luftraum über Idlib ist ab sofort gesperrt", jedes Flugobjekt dort "wird als feindselig betrachtet und muss abgeschossen werden".

Der unvermittelte Konjunktiv ist folgerichtig, denn zu diesem Zeitpunkt war die syrische Luftabwehr dort bereits außer Gefecht gesetzt, wurden zwei Suchoi-24 der syrischen Luftwaffe von einem türkischen F-16 Jet abgeschossen, war der Himmel über Idlib ohnehin nicht mehr in den Händen des Regimes von Bashar al-Assad.

Dass diese Flugverbotszone überhaupt geschaffen wurde und damit die unaufhaltsam scheinende Vertreibung von einer Million und täglich Tausenden mehr Menschen erst einmal gestoppt scheint, ist das bemerkenswerteste Ergebnis der Ereignisse in und über Idlib, Syriens letzter Rebellenprovinz.

Seit Wochen hatte die vereinte Streitmacht aus syrischen Armeeeinheiten und Milizen, iranisch befehligten Verbänden aus dem Libanon, Afghanistan, Pakistan gemeinsam mit der russischen Luftwaffe die mehr als drei Millionen Menschen in Idlib auf immer kleinerem Raum zusammengedrängt, bei eisigen Temperaturen Welle um Welle von Fliehenden vor sich hergetrieben.

"Fürchterlichste Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts"

Die "fürchterlichste Horrorgeschichte des 21. Jahrhunderts" sah Uno-Nothilfekoordinator Mark Lowcock auf Nordsyrien zurollen, werde diese Offensive nicht gestoppt. In wortreichen, seit Jahren erprobt wirkungslosen Appellen mahnten Europas Regierungen dies auch an - aber taten nichts, was dem drohenden "Blutbad", so Lowcock, Einhalt gebieten könnte.

Es war am Ende die Türkei, die dies tat. Es war Recep Tayyib Erdogans türkische Autokratenherrschaft, die seit September 2018 eigentlich ein Waffenstillstandsabkommen mit Russland für Idlib geschlossen hatte und dort zwölf Militärbasen eingerichtet hat, nun aber selbst unter Beschuss geriet.

Wochenlang hatte Erdogan gedroht zurückzuschlagen. Er wollte sich aber mit Russland keinesfalls anlegen, ließ Truppen und vor allem Panzer in Divisionsstärke nach Idlib verlegen und abwarten. Erst als am Donnerstag mindestens 33, eher 50 türkische Soldaten Opfer eines koordinierten syrisch-russischen Luftangriffs wurden, kam am Sonntag der Gegenschlag.

Die Türkei setzte auf hochmoderne Kampfdrohnen

Vor allem die Flotte hochmoderner türkischer Kampfdrohnen aus eigener Produktion traf überall in Idlib Panzer, Geschütze, Truppen, mindestens eine "Pantsir"-Luftabwehreinheit, zwei Militärflughäfen. Zwar neigen die offiziellen türkischen Angaben zur Übertreibung, insofern sind die Zahlen des Verteidigungsministers von acht Hubschraubern, 103 Panzern und 72 Geschützen, die zerstört wurden, nicht belastbar.

Aber die Videoaufnahmen der türkischen Drohnen zeigen Dutzende explodierende Panzer, viele der Koordinaten wurden von der Rechercheplattform Bellingcat identifiziert. Und dass die Formationen von Assads multinationaler Truppe kollabierten, erzählten sich auch abgehörte Kämpfer der libanesischen Hisbollah per Funk. Sie hat nach eigenen Angaben neun Männer verloren, die "in Erfüllung ihrer dschihadistischen Pflicht" starben. 21 tote Afghanen und Pakistaner wurden offiziell vermeldet, es dürften tatsächlich mehr sein.

Russland tat: nichts.

Ankaras sonderbare Manöver, über Tage und Wochen alle russischen Luftangriffe auf die eigenen Soldaten hinzunehmen und ausschließlich, manchmal wahrheitswidrig, Assads Armee dafür verantwortlich zu machen, hat sich taktisch ausgezahlt.

Solange es nicht selbst im Feuer steht, schaut Russlands Militär gerade zu

Solange es nicht selbst im Feuer steht, schaut Russlands Militär gerade zu, wie sein jahrelang gepäppelter syrischer Verbündeter binnen Stunden die schwersten Verluste seit 2011 erleidet. Dies belegt zweierlei:

  • Assad verdankt seine militärischen Erfolge der vergangenen Wochen, Monate, Jahre der russischen Luftwaffe, nicht seinen eigenen Truppen und auch nicht der gewürfelten Schar schiitischer Milizen, die seit 2013 das Gros der Bodenkämpfe für ihn ausgefochten haben. Obamas Mantra von der "starken syrischen Luftabwehr" war nie mehr als ein Vorwand zum Nichtstun. Ein jäher Einfall syrischer Armeeeinheiten in die 2018 zurückeroberte Südprovinz Deraa am Wochenende, um dort Soldaten zwangsweise für Idlibs Fronten zu rekrutieren, führte zu Protesten und Aufständen in mehreren Orten.

  • Zum Zweiten: Moskau ist offensichtlich nicht um jeden Preis entschlossen, Idlib zu erobern. Es trieb die Offensive voran, solange sich niemand widersetzte. Seit dies nun der Fall ist, zieht sich Russland offensichtlich auf die Rolle des Vermittlers zurück. Für den 5. März ist ein Treffen zwischen Putin und Erdogan anberaumt, nun wird um einen gesichtswahrenden Kompromiss für beide Seiten verhandelt.

Und Europa? Als Erdogan vor Tagen die Grenzen für Tausende Flüchtlinge öffnete, wurden Nervosität und Aktionismus rasch groß. Viel größer als angesichts des drohenden Blutbads in Idlib zuvor. Griechenlands Premier setzte kurzerhand das Asylrecht für einen Monat außer Kraft, auf Lesbos wütete ein Mob, verprügelte Nothelfer und Journalisten. Dabei hatte Erdogan noch nicht einmal die schwer gesicherte Grenze nach Idlib geöffnet, sondern nur ausreisen lassen, wer sich bereits in der Türkei aufhielt.

Putins Führung lässt sich von folgenlosen Mahnungen nicht beeindrucken

Das Beharren europäischer Außenpolitiker auf ihre formal korrekten Appellformeln, dass nun wirklich verhandelt werden müsse und es keine militärische Lösung geben dürfe, wirkt nach diesem Wochenende noch weltfremder, noch fataler. Putins Führung lässt sich von folgenlosen Mahnungen nicht beeindrucken.

Kremlchef Wladimir Putin lässt sich von folgenlosen Mahnungen nicht beeindrucken

Kremlchef Wladimir Putin lässt sich von folgenlosen Mahnungen nicht beeindrucken

Foto: Sputnik Photo Agency/ REUTERS

Erdogan wiederum, der nun die drei Millionen Eingeschlossenen von Idlib vorläufig vor weiterer Vertreibung und Tod bewahrt hat, ist derselbe, der vergangenen Oktober mit seiner Invasion in Nordostsyrien Zehntausende Kurden zur Flucht zwang, der im eigenen Land Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit zerstört hat.

Das mörderische Geschehen in Syrien unter verbaler Einhegung einfach laufen zu lassen und die Entscheidungen darüber zwei Autokraten zu überlassen, dürfte sich rächen, früher oder später, wenn Europa sich gleichzeitig derart ignorant und erpressbar zeigt.

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