Tagebuch einer Familie in Idlib "Wir reinigen mit Seife und Salz. Das muss reichen"

Eine Million Vertriebene harren an der syrisch-türkischen Grenze unter elenden Bedingungen aus. Dem Coronavirus wären sie schutzlos ausgeliefert. Ein Vater berichtet, wie er seine Familie dagegen rüstet.
Aufgezeichnet von Maria Stöhr
Helfer der Weißhelme verteilen in einem Krankenhaus in Idlib Desinfektionsmittel gegen das Coronavirus

Helfer der Weißhelme verteilen in einem Krankenhaus in Idlib Desinfektionsmittel gegen das Coronavirus

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Anas Alkharboutli/ dpa

Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Sie sind Vertriebene im eigenen Land: Mehr als eine Million Menschen wurden vom syrischen Regime und Russland aus ihren Häusern gebombt und hängen seit Wochen in der syrischen Provinz Idlib vor der türkischen Grenze fest. Hilfsorganisationen warnen, dass ein Ausbruch des Coronavirus in den provisorischen Lagern das Leben Hunderttausender Menschen bedrohen könnte.

Wo Menschen dicht gedrängt und unter fragwürdigen hygienischen Verhältnissen leben, könnte Covid-19 verheerend zuschlagen. Der Nothelfer Fadi Al-Dairi sagt im Interview mit dem SPIEGEL: "In dem Moment, in dem das Virus die Camps trifft, schlittern wir in eine Katastrophe."

Der SPIEGEL hält seit Anfang Februar Kontakt zu Omer Abdulhamid Hajj Abdo, 42. Er ist ein Arabischlehrer aus Teqad, einem Dorf nördlich von Aleppo. Als das Regime vor einigen Wochen kurz davor stand, sein Dorf einzunehmen, floh er mit seiner Frau und sechs Kindern in ein Flüchtlingscamp bei Azaz nahe der türkischen Grenze.

Die Suche nach einer neuen Bleibe schilderte er dem SPIEGEL in Telefonaten, Videos und WhatsApp-Nachrichten, die ein Vermittler vor Ort übersetzte. Die Aufzeichnungen haben wir als Tagebuch veröffentlicht.

Omer Abdulhamid Hajj Abdo mit fünf seiner sechs Kinder: "Abstand ist ein Luxus, den wir nicht haben"

Omer Abdulhamid Hajj Abdo mit fünf seiner sechs Kinder: "Abstand ist ein Luxus, den wir nicht haben"

Nun haben wir wieder mit Hajj Abdo gesprochen. Zwar besteht im Moment eine - wenn auch brüchige - Waffenruhe in Idlib. Doch zur Ruhe kommt die Familie nicht. Das Coronavirus bereitet Hajj Abdo große Sorge.

Wie ist es der Familie zuletzt ergangen? Wie bereitet sie sich auf das Coronavirus vor? Die folgenden Aufzeichnungen von Hajj Abdo sind aus Telefonaten entstanden, die ein Vermittler vor Ort übersetzte:

Sonntag, 15. März 2020:

"Heute bin ich für einen Tag zurück in unser Dorf gegangen. Ich wollte den Waffenstillstand nutzen, um nach unserem Haus zu sehen. Die Kriegsfront liegt weiterhin nur zwei oder drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Man erzählt sich hier, dass es länger keinen Beschuss gab. Also brach ich auf.

Die Hälfte des Hauses ist zerstört. Durch die Vordertür konnte ich nicht eintreten. Ein Nachbar wurde ein paar Tage zuvor vom Regime angeschossen bei dem Versuch, durch die Vordertür in sein Heim einzutreten. Er hat zum Glück überlebt. Ich benutzte deshalb den Hintereingang.

"Es gibt Gerüchte, dass Soldaten aus Iran das Coronavirus nach Syrien eingeschleppt haben."

Omer Abdulhamid Hajj Abdo

Drinnen war der Boden so staubig, alles grau. Irgendwo im Schutt entdeckte ich die Puppe meiner Tochter, sie lag da. Es ist eine Matrjoschka, eine Frauenfigur aus Holz, wie es sie vor allem in Russland gibt. Ist das nicht ein schlechter Witz? Die Puppe, die meine Tochter am meisten liebt, kommt aus dem Land, dessen Soldaten unser Haus bombardieren. Meine Tochter ist drei Jahre alt, sie hat oft nach ihrer Matrjoschka gefragt. Deshalb habe ich sie ihr mit ins Camp genommen."

Dienstag, 17. März 2020:

"In den vergangenen Tagen hat es viel geregnet. Dann versinkt hier im Camp alles im Schlamm. Wir leben immer noch bei Azaz, in dem ehemaligen Warenhaus in unseren Zelten. Der Strom fällt oft aus. Wir haben zwar eine Waschmaschine. Doch der Strom aus Generator und Solarzellen reicht lediglich, um unsere Handys zu laden und ein bis zwei Lampen zu betreiben.

Wir haben aber auch Glück, so sehe ich das. Meine Schwägerin lebt in Kanada. Sie schickt uns immer wieder Geld. Sonst wüsste ich nicht, wie wir hier überleben sollten. Ich habe noch keine Arbeit finden können. Ich würde so gern wieder als Lehrer arbeiten. Ein Haus mieten, gutes Essen kaufen. Vielleicht ein Huhn schlachten. Wir ernähren uns seit Monaten von Reis und Weizen."

Sonntag, 22. März 2020:

"Wir sind heute zu meinem Bruder gefahren, er wohnt sehr abgelegen in der Nähe von Afrin, in den Bergen. Ich habe überlegt, ob wir zu ihm ziehen sollten. Doch sein Haus liegt mehr als fünf Kilometer entfernt vom nächsten Dorf. Das macht ein Leben dort unmöglich für uns, denn meine Schwester braucht regelmäßig medizinische Hilfe, sie hat Diabetes. Und meine Kinder müssen irgendwo zur Schule gehen. Wir werden übermorgen wieder ins Camp aufbrechen."

Mittwoch, 25. März 2020:

"Unsere Gegend kann nicht noch mehr Chaos gebrauchen, nun aber kommt schon die nächste Gefahr: Es gibt Gerüchte, dass Soldaten aus Iran das Coronavirus nach Syrien eingeschleppt haben.

Wegen der Coronakrise haben die lokalen Behörden in Azaz die Schulen geschlossen. Alle Kinder sind jetzt den ganzen Tag bei uns zu Hause. Ihnen ist so langweilig.

DER SPIEGEL

Ich habe die Nachrichten aus Europa gehört. Dort gibt es doch gute Krankenhäuser, gute Politiker. Und trotzdem haben sie große Probleme, mit Corona umzugehen. Kann sich irgendjemand vorstellen, wie uns das treffen wird? Unsere Krankenhäuser sind Trümmer. Es gibt doch schon jetzt keine medizinische Hilfe.

Das Virus würde sich hier rasend schnell verbreiten. Allein hier bei uns leben vier Familien auf 60 Quadratmetern. Platz und Abstand sind ein Luxus, den wir nicht haben. Und was die Hygiene angeht: Es gibt ein paar Aktivisten, die uns hier sensibilisieren, wie wichtig Hygiene gegen die Ansteckung ist. Wir reinigen alles mit etwas Seife und Salz. Das muss reichen.

Uns bleibt nichts, außer zu beten. Die Krankheit darf hier nicht zuschlagen. Es gibt keine Kontrolle. Wie will man hier im Camp, mit Tausenden Menschen, mit so viel Improvisation, irgendetwas kontrollieren? Dass alles unkontrollierbar ist, ist hier der Normalzustand. Viele können sich gar nicht informieren über das Coronavirus, weil sie kein Handy haben und kein Internet.

'Haltet Vorrat', sagen jetzt manche. Ich habe aber kein Geld, um uns zu bevorraten. Ich habe Supermärkte in Europa gesehen, selbst dort sind die Regale leer. Selbst Europäer kämpfen jetzt um ihr Essen. Was erwartet ihr für Zustände in einem Flüchtlingslager in Syrien?"

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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