Klinik für queere Menschen in Mumbai "HIV zu haben, ist kein Verbrechen"

2,1 Millionen Menschen in Indien leben mit HIV. Die Regierung will das Land bis 2030 von dem Virus befreien. Doch vor allem homosexuellen Männern werden Behandlungen häufig noch verwehrt - eine Klinik will das ändern.
Aus Mumbai, Indien, berichten Maria Christoph und Stefanie Witterauf
Ganesh Acharya beim jährlichen Aids Candle Walk in Mumbai zum Gedenken an die Verstorbenen

Ganesh Acharya beim jährlichen Aids Candle Walk in Mumbai zum Gedenken an die Verstorbenen

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Francesco Giordano

Globale Gesellschaft

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Den Eingang zur Klinik im Norden Mumbais muss man kennen, es gibt keine Schilder, die darauf hinweisen. Sie befindet sich im dritten Stock eines Plattenbaus im Viertel Santacruz, am Manthan Plaza, unweit eines Ortes, an dem nachts Menschen ihre Körper gegen Geld verkaufen.

Im Erdgeschoss des heruntergekommenen Hauses an einer der vollgestopften Straßen der 20-Millionen-Einwohner-Metropole verkaufen Frauen rohen Fisch. Im Treppenhaus hängt ein beißender Geruch, an den Wänden rötlich-braune Flecken, Spuren des Betel-Tabaks, der die Spucke seiner Konsumenten verfärbt. Menschen aus jeder sozialen Schicht, vor allem aus den unteren, wo das Tabakkauen eher Gewohnheit ist und gegen Hunger helfen soll, kommen hierher.

In einem Plattenbau am Manthan Plaza befinden sich die Humsafar Trust Organisation und die Integrated HIV Clinic

In einem Plattenbau am Manthan Plaza befinden sich die Humsafar Trust Organisation und die Integrated HIV Clinic

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Gina Bolle

Das Schild der Integrated HIV Clinic führt zu einer Schiebetür, dahinter ein Raum ohne Fenster. Dort sitzt Ganesh Acharya in gestreiftem Polohemd und Jeans vor einem Bildschirm und Patientenakten. Hinter dünnen Trennwänden warten zwei jüngere Männer. Schräg gegenüber von Acharyas Arbeitsplatz sitzt eine Transfrau auf einer Pritsche und wird von einer Ärztin behandelt.

"HIV zu haben, ist kein Verbrechen", sagt Ganesh Acharya. Mit dem Zeigefinger deutet er auf ein Telefon. "Das muss ich den Leuten, die bei mir anrufen, jeden Tag sagen." Acharya arbeitet in einer Klinik, die sich speziell an HIV-positive Menschen aus der LGBTQ-Gemeinde richtet.

Acharya, 39, wäre selbst fast an dem Virus gestorben. Weil damals, 1996, niemand den jungen, schwulen Mann behandeln wollte. Heute lebt er ohne Ansteckungsgefahr. Sein Ex-Partner schenkte ihm jedes Jahr zum Geburtstag einen HIV-Test, den er bei sich machte. "Das Ergebnis war immer negativ", sagt Acharya.

Wer HIV frühzeitig erkennt und behandelt, kann das Virus im Zaum halten, kann verhindern, andere anzustecken und dass Aids ausbricht. Vielen seiner Wegbegleiter sei es anders gegangen, sagt Acharya. "Ich habe zu viele Menschen, darunter enge Freunde, sterben sehen."

Der Eingang der Klinik ist kaum zu erkennen, es gibt keine Schilder, die darauf hinweisen

Der Eingang der Klinik ist kaum zu erkennen, es gibt keine Schilder, die darauf hinweisen

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Gina Bolle

Noch immer sterben in Indien jährlich mehr als 69.000 Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion, rund zwei Millionen Inder sind HIV-positiv, 0,2 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren. Jeder Fünfte weiß laut Zahlen des indischen Gesundheitsministeriums nicht von seiner Erkrankung.

Besonders homosexuelle Männer sind von HIV betroffen. Von 4000 schwulen Männern, die auf das Virus getestet werden, seien 253 HIV-positiv, so eine aktuelle Statistik. Das sind gut sechs Prozent.

Aus Angst ließen sich bis vor Kurzem viele homosexuelle Männer nicht untersuchen, viele Fälle von HIV blieben deshalb unbemerkt und konnten nicht oder erst zu spät behandelt werden. Als Maßnahme im Kampf gegen das Virus schaffte Indien Ende 2018 den schwulenfeindlichen Paragraf 377 ab. Seitdem ist Sex zwischen Männern in Indien nicht mehr verboten.

Die Gesetzesänderung hat das Erkennen und Behandeln von HIV erleichtert, doch Homosexualität wird in Indien von einem Großteil der Gesellschaft noch immer nicht akzeptiert. Und in staatlichen Krankenhäusern werden queere Patientinnen und Patienten häufig diskriminiert, indem zum Beispiel nach wie vor Behandlungen abgelehnt werden.

Deshalb hat Ganesh Acharya im März 2019 gemeinsam mit einem Team der Organisation Humsafar Trust die Klinik eröffnet: Ein Team aus acht Ärztinnen, Beratern und Pflegern bietet medikamentöse Behandlungen bei HIV-Infektionen – kostenlos.

Ganesh Acharya an seinem Schreibtisch in der HIV-Klinik

Ganesh Acharya an seinem Schreibtisch in der HIV-Klinik

Foto: Francesco Giordano

Zum Teil kommen die Mitarbeiter nach ihrer regulären Arbeitszeit in staatlichen Krankenhäusern hierher. Sie sind alle bei Humsafar Trust angestellt. Von der Voruntersuchung bis zur Verabreichung von Medikamenten führen sie alles selbst durch und klären zusätzlich Patientinnen und Patienten über die Themen HIV-Prävention, Verhütung und Sex auf.

Gerade eben erst hat Acharya mit einem Mann aus einer kleinen Stadt im Bundesstaat Maharashtra gesprochen. Er habe nach Hilfe gesucht, weil er dort, wo er lebt, niemandem von seiner Situation erzählen kann. Angesteckt habe er sich beim Sex mit einem anderen Mann. Acharya habe ihm geraten, sich sofort untersuchen zu lassen, "er darf damit nicht zu lange warten".

Acharya erzählt offen von seiner eigenen Geschichte: Mit 17 wurde er missbraucht und mit HIV infiziert. Es war ein Verwandter, sagt er. "Ich wusste damals nicht, was Sex ist oder ein Kondom." Acharya wurde durch die Infektion sehr krank. Zu krank, um zu arbeiten, um Medikamente gegen das Fieber zu kaufen, das ihn immer schwächer machte. Er wusste nicht, was er hat. Seine Familie schickte ihn weg.

Schließlich die Diagnose. Erst nach vier Jahren hat Acharya die Krankheit im Griff. Er entscheidet, sein Leben dem Kampf gegen HIV zu widmen. Acharya lernt eine Gruppe Männer kennen, darunter den Schwulenrechtsaktivisten Ashok Row Kavi, der die NGO Humsafar Trust gegründet hat.

Ashok Row Kavi (2. v. r.) beim jährlichen Aids Candle Walk in Mumbai

Ashok Row Kavi (2. v. r.) beim jährlichen Aids Candle Walk in Mumbai

Foto: Francesco Giordano

Inzwischen hat Acharya ein abgeschlossenes Studium in Soziologie und Politikwissenschaften. Er hat angefangen, Jura zu studieren, lebt in einer festen Partnerschaft und unterstützt seine Mutter und Schwester.

Die Klinik kümmert sich aktuell, nur ein paar Monate nach der Eröffnung, um rund 400 Patienten, sagt Acharya. Das sei zwar nur ein geringer Teil, aber ein wichtiger Anfang. Von seinem kleinen Büro aus übernimmt er vor allem die Kommunikation mit Medien und Geldgebern, darunter nationale NGOs und gemeinnützige Vereine. Die Klinik wird mittlerweile auch staatlich und international gefördert.

Die Regierung in Delhi will die Ansteckungsrate bis 2030 auf null reduzieren, Indien quasi "HIV-frei" machen. Doch die Zahl der Neuansteckungen ist seit 2015 nur minimal gesunken und liegt noch immer bei 87.000 neuen Infektionen jährlich.

Auf Acharyas Schreibtisch liegt die aktuelle Ausgabe der "Times of India". Er zeigt auf einen Artikel, in dem er zitiert wurde. Es geht um die aktuelle Versorgungssituation von Menschen mit HIV: Gerade sind mehr als hundert Ärzte und Ärztinnen im Bundesstaat Maharashtra, in dem auch Mumbai liegt, aus dem staatlichen Aids control programme entlassen worden, weil sie "schlampige Arbeit" geleistet hätten. Manche seien gar nicht erst in den HIV-Behandlungszentren aufgetaucht, heißt es in dem Artikel.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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