Corona-Maßnahmen in Indien Todesfalle Ausgangssperre

Indien hat die größte Ausgangssperre der Welt verhängt, mit wohl dramatischen Folgen: Hilfsorganisationen fürchten vor allem bei den Ärmsten viele Todesfälle. Allerdings nicht wegen des Virus.
Von Laura Höflinger, Bangalore
Suppenküche in Delhi: Obdachlose und Tagelöhner warten auf eine warme Mahlzeit

Suppenküche in Delhi: Obdachlose und Tagelöhner warten auf eine warme Mahlzeit

Foto: DANISH SIDDIQUI/ REUTERS

Akhil Chaudhary ist Anwalt. Aber seit die indische Regierung dem Land den Stillstand verordnet hat, verbringt der 35-Jährige seine Zeit in einem Slum. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen verteilt er dort Essen an Menschen, die früher schon wenig hatten, denen aber in Zeiten der Ausgangssperre fast nichts mehr bleibt.

Chaudhary schickt ein Video: Ein junger Mann erzählt darin, dass er früher Gräben ausgehoben habe, nun sitze er nur noch herum. Er steht vor zwei Zelten, die aus Müll gebaut sind. Der Boden ist sandig. Es kommen mehr Slum-Bewohner herbei.

"Bevor uns Corona erwischt, werden wir verhungern"

Slum-Bewohner in Indien

Die Kinder unter ihnen strecken die Hände aus, als zwei Männer mit Mundschutz Essen verteilen. "Bevor uns Corona erwischt, werden wir verhungern", sagt ein Mann in die Kamera. Millionen Menschen in Indien teilen momentan seine Angst.

Seit dem 25. März gilt in Indien eine dreiwöchige Ausgangssperre, die die Verbreitung des neuen Coronavirus im Land verhindern soll. 1,37 Milliarden Menschen sollen, so hat es Premier Narendra Modi gesagt, "vergessen, was es heißt, vor die Tür zu gehen". Bereits nach kaum einer Woche sieht es so aus, als drohe die größte Ausgangssperre der Welt zur humanitären Katastrophe zu werden.

Fabriken stehen still, Geschäfte sind geschlossen, Züge, Busse und Flüge wurden eingestellt. Hunderttausende haben ihre Arbeit und oft auch ihr Zuhause verloren. Bauarbeiter etwa, die für wenig Geld riesige Apartmentkomplexe errichten, besitzen selbst oft keine Wohnung. Sie schlafen auf den Baustellen, die nun dicht sind.

Männer und Frauen, die früher in Restaurants gekocht haben, müssen um Essen betteln. Die Unterkünfte für Obdachlose in den Städten sind hoffnungslos überfüllt; die Massen vor den Suppenküchen so groß, dass es Stunden dauert, bis alle versorgt sind.

Wanderarbeiter, die kein Einkommen mehr haben und nun zu Hunderttausenden versuchen, zu Fuß zurück in ihre Dörfer zu gelangen, wurden in einzelnen Fällen von der Polizei mit Tränengas zurückgedrängt.

Nahrungsmittellieferungen bleiben aus, nicht weil es zu wenig Nahrung im Land gäbe, sondern weil die Laster an innerstaatlichen Grenzen festhängen oder die Arbeiter, die sonst die Waren entladen, fortbleiben.

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Bislang haben sich offiziellen Angaben zufolge rund 1800 Inder mit dem Coronavirus angesteckt. Noch ist unklar, wie sich die Epidemie in Indien auswirken wird. Ähnlich gute Computersimulationen wie für Deutschland gibt es nicht. Aber es gibt die begründete Angst, dass eine Infektionswelle Indiens fragiles staatliches Gesundheitssystem binnen kurzer Zeit überfordern könnte.

Die Ausgangssperre soll dem Staat die nötige Zeit verschaffen, die Kapazitäten der Krankenhäuser auszubauen und Beatmungsgeräte herzustellen. Zugabteile, die nun nicht mehr genutzt werden, sollen in Isolationsstationen umgebaut werden. Viele Inder haben dafür Verständnis, auch der Anwalt Chaudhary.

Was er nicht versteht, ist die Art und Weise, wie die Regierung vorgeht. "Für viele Menschen ist nicht das Coronavirus das Problem. Die Ausgangssperre ist das Problem", sagt er.

Indiens Beispiel zeigt, wie schwierig es für Entwicklungsländer ist, Maßnahmen, die in reichen Ländern funktionieren, im eigenen Land umzusetzen. Besonders dann, wenn sie schlecht vorbereitet sind.

Am 24. März verkündete Premier Narendra Modi die Ausgangssperre in einer Fernsehansprache. Weder erklärte er, wie Indiens Ärmste über die Runden kommen sollen, noch ließ er seinen Bürgern die Zeit, sich auf die neuen Regeln einzustellen.

Zwischen der Rede und dem Inkrafttreten der Ausgangssperre lagen keine vier Stunden. Reiche Inder räumten die Lebensmittelregale leer. Ärmere versuchten, die Stadt zu verlassen.

Das Nachbarland Bangladesch hingegen, das seine Ausgangssperre "eine zehntägige Urlaubszeit" nennt, ließ Wanderarbeitern ein paar Tage Zeit, zu ihren Familien zurückzukehren.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

"Wenn die Behörden von Beginn an klar kommuniziert hätten, dass Wanderarbeiter keine Miete zahlen müssen, aber Nahrung und Geld bekommen, wäre weniger Panik ausgebrochen", sagt Chinmay Tumbe vom Indian Institute of Management in Ahmedabad.

Stattdessen verkündete die Regierung erst fünf Tage nach Inkrafttreten der Ausgangssperre, wie sie die Ärmsten unterstützen will. So sollen etwa bedürftige Familien unter anderem zusätzlich fünf Kilo Weizen und Reis erhalten.

Viele Bundesstaaten haben ihre eigenen Hilfsprogramme aufgesetzt. In zahlreichen Fällen ist aber unklar, wie die Rationen verteilt werden sollen - und ob sie wegen der grassierenden Korruption die Armen überhaupt erreichen.

Die wichtigsten Hygieneregeln
  • Drehen Sie sich am besten weg, wenn Sie husten oder niesen müssen! Mindestens ein Meter Abstand sollte zwischen Ihnen und anderen Personen sein.

  • Ein Papiertaschentuch bitte nur einmal benutzen! Entsorgen Sie es anschließend in einem Mülleimer mit Deckel.

  • Halten Sie sich beim Husten und Niesen die Armbeuge vor Mund und Nase, wenn gerade kein Taschentuch zur Hand ist.

  • Wichtig: Waschen Sie sich nach dem Naseputzen, Niesen oder Husten gründlich die Hände, entweder mit einem Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis oder mit Wasser und Seife.

Quelle: WHO, Gesundheitsministerium

Wie panisch die Regierung womöglich selbst ist, wurde am Sonntag vor der Ausgangssperre deutlich. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Gerüchte über eine Ausgangssperre.

Die Wanderarbeiter drängten sich an den Bahnsteigen. Die Staatseisenbahn setzte zunächst Sonderzüge ein. Als die Behörden fürchteten, die Reisenden könnten das Virus im Land verteilen, stellten sie den gesamten Zugverkehr jedoch abrupt ein - auch Züge, die bereits unterwegs waren, mussten anhalten.

Nichts geht mehr: Dutzende Wanderarbeiter versuchen, sich in einen der letzten Züge zu quetschen

Nichts geht mehr: Dutzende Wanderarbeiter versuchen, sich in einen der letzten Züge zu quetschen

Foto: PRASHANT WAYDANDE/ REUTERS

Der in Indien bekannte Autor und Aktivist Harsh Mander findet es schwer vorstellbar, dass die Regierung nicht wusste, was sie tat. "Alles, was jetzt passiert, war abzusehen. Mir kommt es so vor, als hätte die Mittelklasse Angst vor Corona, und um sich zu schützen, hat man beschlossen, die Armen unter den Bus zu werfen", sagt er.

Die Pandemie stelle für Indien eine furchtbare Gefahr dar, aber das Land müsse eigene Lösungen zu finden. "Man kann eine Ausgangssperre in einem Land durchsetzen, in dem Menschen ein Dach über ihrem Kopf haben und jeden Monat ein Gehalt erhalten", sagt er.

Und fügt hinzu: "Aber nicht bei uns, wo manche zu zehnt in einer Hütte wohnen und kein fließendes Wasser haben, um sich die Hände zu waschen." Mander hält es in der jetzigen Situation für möglich, dass Menschen verhungern werden. Und dabei ist das Coronavirus noch nicht einmal richtig im Land angekommen.

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