Weltweite Proteste »Es ist für Politiker sehr attraktiv, indigene Menschen zu präsentieren«

Indigene Frauen protestieren in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia für ihre Landrechte
Foto: Felipe Beltrame / NurPhoto / Getty Images
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Sie zieren die Titelseiten großer Zeitungen, sprechen auf der Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow, treffen Regierungschefs oder Vertreter des englischen Königshauses: Indigene Aktivisten und Aktivistinnen sind derzeit auf der Weltbühne sichtbar wie nie zuvor – und organisieren zugleich in ihren Heimatländern unterschiedlichste Proteste.
Und doch: Ein großer Teil der indigenen Gemeinden leben in Armut, von wichtiger Infrastruktur abgeschnitten und ihre Anführer müssen oft nicht nur um ihr Land fürchten, sondern auch um ihr Leben. Die Anthropologin Paja Faudree versucht den scheinbaren Widerspruch zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit und Vernachlässigung zu erklären und sieht in der »Instagramisierung« des Widerstandes auch ein Problem.

Indigene Aktivistinnen bei der Weltklimakonferenz COP26 in Glasgow
Foto: YVES HERMAN / REUTERSSPIEGEL: Frau Faudree, kann man sagen, dass Proteste indigener Völker weltweit gerade eine Art Momentum haben?
Paja Faudree: Es wird in den Medien mehr über sie berichtet, das ist zumindest auch mein Eindruck. Indigene Proteste gibt es aber seit sehr langer Zeit. Seit jeher versuchen indigene Völker ihre Territorien gegen Bergbau oder Abholzung zu verteidigen und die Ökosysteme, in denen sie leben, zu schützen – heute wird das stärker anerkannt. Und ihre Anliegen werden jetzt mehr gehört als früher, auch weil die gesamte Thematik von Umweltschutz und Klimakrise stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist und es inzwischen ein allgemeines Gefühl gibt, dass etwas verändert werden muss. Die Interessen von indigenen Völkern und Umweltaktivisten überschneiden sich, sie arbeiten auch schon seit Jahrzehnten zusammen.

Paja Faudree ist Dichterin und Dozentin im Fachbereich Anthropologie an der Brown University in Rhode Island. Ihr Schwerpunkt liegt auf indigenen Sprachen, Literatur und politischen Bewegungen. Sie forscht hauptsächlich in Mexiko und den USA und ist Autorin des Buches »Singing for the Dead: the Politics of Indigenous Revival in Mexico«. Faudree stammt väterlicherseits aus einer indigenen Familie. Sie bezeichnet sich selbst nicht als indigen, sieht aber durch ihre Familiengeschichte eine besondere Verbindung zu indigenen Völkern.
SPIEGEL: Gibt es noch andere Faktoren, die eine Rolle spielen?
Faudree: Derzeit mobilisieren indigene Völker auch deshalb weltweit, weil sie extrem bedroht sind. In vielen Staaten gab es in den vergangenen Jahren einen politischen Rechtsruck. Regierungen wie etwa die des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro versuchen, die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wieder rückgängig zu machen und den indigenen Völkern etwa ihre Schutzzonen streitig zu machen. Auch das führt zu mehr Protest. Man konnte das auch unter Donald Trump in den USA beobachten: Minderheiten gerieten stärker unter Druck, es kam zu den Black-Lives-Matter-Demonstrationen. Zunächst ging es in der Berichterstattung der Medien über die Bewegung nur um die Minderheitenrechte schwarzer Menschen. Aber dann erreichte die Aufmerksamkeit auch Menschen indigener Herkunft ein und macht ihre Anliegen sichtbarer.

Indigene Menschen protestieren im Nordosten Guatemalas gegen repressive Regierungsmaßnahmen und Korruption
Foto: Esteban Biba / EPASPIEGEL: Inzwischen werden nicht mehr nur beispielsweise Traktoren von Holzarbeitern im brasilianischen Regenwald blockiert – sondern 6000 Indigene reisen zur gleichen Zeit in die Hauptstadt Brasilia, um vor dem Obersten Gerichtshof zu demonstrieren wie im August dieses Jahres. Haben sich die Proteste professionalisiert?
Faudree: Die Proteste sind oft geplant und koordiniert. Sie werden angeführt von Organisationen, die von indigenen Menschen gegründet wurden, um deren Interessen zu vertreten. In Ecuador gibt es zum Beispiel CONAIE und in Brasilien APIB. Es hat Jahre gedauert, diese Organisationen aufzubauen. Aber heute sind sie gut vernetzt und dazu in der Lage, auf Bedrohungen und Probleme zu reagieren und schnell viele Menschen zu mobilisieren. Sie werden nicht nur von ihren Mitgliedern aus der indigenen Gemeinschaft unterstützt.

Indigene Studenten protestieren von dem Bildungsministerium in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia für mehr Zugang zu höherer Bildung
Foto: Joedson Alves / EPA-EFESPIEGEL: Wie wichtig sind die sozialen Medien für indigene Protestbewegungen?
Faudree: Ohne Zweifel sind sie sehr wichtig. Der Aktivismus der eben erwähnten Organisationen würde ohne die Vernetzung über soziale Medien nicht funktionieren. Sie sind in der Lage, über Online-Plattformen schnell zu kommunizieren oder finanzielle Mittel zu beschaffen. Es werden außerdem Verbrechen in indigenen Territorien und an indigenen Menschen dokumentiert und publik gemacht. So werden Kanäle jenseits der großen Medien genutzt, um eine interessierte Öffentlichkeit zu informieren.
SPIEGEL: In den sozialen Medien ist gerade eine junge Generation indigener Influencer sehr erfolgreich. Hat diese Form der Selbstdarstellung auch eine Schattenseite?
Faudree: Indigene Menschen werden durch die sozialen Medien sichtbarer, auch auf Instagram oder TikTok. Das ist definitiv gut so. Aber wir müssen uns auch fragen, was für eine Art der Sichtbarkeit das ist und worauf sie basiert, manchmal nämlich auf Exotik und der Ästhetisierung von Andersartigkeit. Das kann bestehende Stereotype verstärken. Wir konsumieren diese farbenfrohen Bilder indigener Menschen, aber was folgt daraus? Die Instagramisierung des Protestes besorgt mich. Die Sichtbarkeit in den sozialen Medien ist wichtig, aber ich befürchte, dass sie gleichzeitig den Druck ihnen zuzuhören an anderer Stelle verringert, wenn es darum geht wichtige Ziele zu erreichen, für die indigene Menschen seit langer Zeit gekämpft haben.
SPIEGEL: Sie sind also ambivalent?
Faudree: Ich denke, es ist ein ähnliches Phänomen wie das, was wir jetzt bei der COP26 beobachten konnten und auch bei anderen Konferenzen. Es besteht die Gefahr, dass ein – von mir sogenannter – »vorgesehener Raum für Protest« entsteht. Natürlich ist es für Politiker sehr attraktiv, indigene Menschen zu präsentieren. Es ist aber auch ein einfacher und billiger Weg, um zu zeigen, wie divers und inklusiv man ist. Solange sich der Protest nur innerhalb des vorgesehenen Rahmens bei einer Konferenz abspielt, haben die mächtigen Interessen, die von tiefgreifenderen Veränderungen betroffen wären, nichts zu befürchten. Aber wenn die indigenen Demonstranten den Raum verlassen, der ihnen von Regierungen zugestanden wurde, und Bauprojekte vor Ort blockieren oder Maschinen zerstören, dann sind die Regierungen oder Firmen direkt betroffen, reagieren härter und lassen zum Beispiel Menschen verhaften. Meine Befürchtung ist, dass die sozialen Medien auch ein wenig so funktionieren wie ein »vorgesehener Raum für Protest«. Solange hauptsächlich dort protestiert wird, stört mächtige Interessen kaum. Aus deren Sicht ist es dann so: Indigene Menschen können ruhig auf Instagram oder Twitter protestieren, kein Problem – aber bitte zwingt uns nicht, das Bildungssystem zu verändern, die Abholzung zu stoppen oder für bessere wirtschaftliche Möglichkeiten in den indigenen Gebieten zu sorgen.

Die indigene Influencerin Alice Pataxó hielt bei der Klimakonferenz in Glasgow eine Rede
Foto: Leonardo Carrato / DER SPIEGELSPIEGEL: Sie befürchten also, dass diese Art des Protestes am Ende verpufft oder sogar kontraproduktiv ist?
Faudree: Proteste sind wichtig und haben oft entscheidende Veränderungen bewirkt. Tatsächlich bedeuten sie allein aber noch lange nicht, dass sich irgendetwas verbessert für indigene Gemeinschaften, die oft in bitterer Armut leben und etwa unter schlechter Gesundheitsversorgung leiden. Meine Befürchtung ist, dass die erhöhte Sichtbarkeit durch die sozialen Medien ironischerweise dazu führen könnte, dass Regierungen sich sogar besser aus der Affäre ziehen und indigene Anliegen ignorieren können, weil sie sagen können: Schaut, die Indigenen sind doch Teil des öffentlichen Diskurses im Land.
SPIEGEL: Es gibt auch ganz andere Formen von indigenem Aktivismus, die zuletzt Aufmerksamkeit erregten, wie der Versuch, gegen Modeketten wie Zara vorzugehen, weil diese mutmaßlich indigenes Design kopierten und damit Urheberrechte verletzten – oder auch die Beschwerde der brasilianischen Organisation APIB gegen Präsident Jair Bolsonaro vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Machen Ihnen solche Initiativen Hoffnung?
Faudree: Das alles ist relativ neu und sicherlich aufregend. Ich denke, es ist wichtig, dass indigene Völker Teil des öffentlichen Diskurses werden, was sie vorher nicht immer waren, dass sie neue Wege gehen und das internationale Rechtssystem nutzen, um ihre Autonomie zu stärken. Ob das wirklich zu substanziellen, langfristigen Veränderungen für sie führen wird, ist schwer zu sagen. Möglicherweise werden hier Prozesse angestoßen, die nicht sofort Auswirkungen haben, wohl aber für kommende Generationen.

Indigene Frauen demonstrieren in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia mit einer Statue des Präsidenten Jair Bolsonaro
Foto: Andressa Anholete / Getty ImagesSPIEGEL: Indigene Menschen werden heute nicht mehr nur als Opfer von Genozid oder Vertreibung gesehen, sondern immer mehr auch als Weise, die der Menschheit dabei helfen können, Lösungen für die Klimakrise zu finden. Ist das romantische Verklärung oder eine Form der Anerkennung, die längst hätte erfolgen sollen?
Faudree: Es macht mich nervös, wenn Indigene als »Weise« bezeichnet werden, das geht in Richtung des Stereotypen vom »edlen Wilden«. Indigene Menschen sind Menschen. Sie sollen am Diskurs teilnehmen, wie alle anderen. Ihre Perspektive ist wichtig, wie andere Perspektiven auch wichtig sind. Man soll ihnen zuhören, bisher hat man das zu wenig getan. Inzwischen gibt es dafür ein Bewusstsein. Tatsächlich gibt es aber auch ein indigenes Erfahrungswissen, weitergegeben von Generation zu Generation, darüber wie man auf andere Art natürliche Ressourcen nutzen und in einem Ökosystem leben kann, ohne es dabei zu zerstören. Es geht hier also nicht nur darum, dass indigene Stimmen aus demokratischen Gründen integriert und gehört werden, sondern auch um wichtige Erkenntnisse, die sie beitragen können.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.