Inferno in Idlib Vor den Augen der Welt
Flüchtlingstrek vor Idlib
Es ist doch alles gesagt, geschrieben, so oft schon, dass man sich seltsam vorkommt bei der Wiederholung.
Da fliehen binnen zwei Monaten mehr als 900 000 Menschen aus wohlbegründeter Todesangst vor Wellen von Luftangriffen durch das Regime von Syriens Diktator Baschar al-Assad und seinem wichtigsten Unterstützer, Russland, gefolgt von einer Soldateska, die Zurückgebliebene ermordet und noch die Friedhöfe der Geisterstädte schändet.
Da erfrieren bei Nachttemperaturen unter null Grad ohnehin schon abgemagerte Säuglinge. Zehntausende harren unter eisigem, freiem Himmel aus, weil es nicht einmal mehr Zelte gibt. Kranke, Verletzte sterben, weil ein Krankenhaus nach dem anderen gezielt in Trümmer gelegt wird. Selbst die Flüchtlingslager werden zum Ziel.

Rettungseinsatz in Idlib: Assad äschert lieber Syrien ein, als dass er die Macht abgibt
Foto: OMAR HAJ KADOUR/ AFPEs ist auch nicht so, dass all dies sich im Geheimen abspielt oder um ein jähes Auflodern der Gewalt handelt, mit dem keiner rechnen konnte. Weltweit wird berichtet, detailliert. Die Warnungen der Uno klingen zusehends verzweifelter. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderten am Donnerstag im Telefonat mit Russlands Staatschef Wladimir Putin ein "sofortiges Ende der Kampfhandlungen".
So, wie die Regierungen der USA und Europas seit 2011 immer wieder appelliert, gefordert, gedroht haben, ohne je mehr zu erreichen als eine kleine Beruhigungspause.
Niemand stoppt diesen Mahlstrom der Verwüstung, die größte Massenflucht seit Beginn des Aufstandes vor neun Jahren. Keine westliche Regierung fordert zumindest Schritte, die dem Grauen Einhalt gebieten könnten. Idlib, letzte Zufluchtsprovinz Syriens für drei Millionen Menschen, darunter Geflohene, Deportierte aus dem ganzen Land, wird zum Schlusspunkt eines jahrelangen Versagens der gern beschworenen westlichen Wertegemeinschaft.
Doppeltes Versagen
Es ist ein doppeltes Versagen: moralisch, weil die völkerrechtliche Idee der Schutzverantwortung, beschlossen in den Neunziger Jahren nach den Massakern in Ruanda und Jugoslawien, zum Muster ohne Wert gemacht worden ist; praktisch, weil die Millionen syrischer Flüchtlinge Rassisten und Rechtsradikalen in Europa wie im Nahen Osten einen Vorwand zum Aufstieg geliefert haben - und weiter liefern werden, wenn den drei Millionen in Idlib bald nur die Wahl bleibt zwischen Tod oder dem Versuch des Entkommens über die abgeriegelte türkische Grenze.
Ein einsames Versagen ist es indes nicht: Die wortreiche Ignoranz der Politiker lag auf Linie mit der Mehrheitsmeinung ihrer Wähler.

Flucht aus Idlib in Bildern: Wie Hunderttausende Syrer ums Überleben kämpfen
Den Erfolg bei der Kultivierung unserer Gleichgültigkeit verdanken Assad und Putin vor allem zwei Elementen: Gewöhnung und Fälschung.
Die Gewalt wurde langsam gesteigert, darauf setzend, dass die Welt sich an jede Barbarei gewöhnt. Bei den Protesten ab 2011 wurden täglich ein paar Menschen erschossen, 2012 starben oft Hunderte an einem Tag.
Nachdem der damalige US-Präsident Barack Obama seine "rote Linie" gegen den Einsatz von Chemiewaffen erklärt hatte, setzte das Regime immer wieder Sarin in winzigen Dosen ein, als Testlauf, wie die Welt reagiert, bis zum großen Angriff im August 2013 mit knapp 1000 Toten.
Selbst danach zeigte sich: Obamas Drohung war leer. Ein erwarteter Vergeltungsangriff hätte, so die Furcht in Washington, Assads Herrschaft zum Kollaps gebracht. Soviel Verantwortung wollte niemand.
Aber es hätte immer wieder Möglichkeiten gegeben, zwar nicht den Krieg, aber Assads Vernichtungsfeldzug gegen seine unbotmäßige Bevölkerung zu stoppen: Flugverbotszonen im Norden wie im Süden wie 1991 über dem Nordirak wären vor der Intervention Russlands mühelos durchzusetzen gewesen. Sie hätten nicht das Ende der Bodenkämpfe bedeutet, aber Lebenssicherheit für Millionen, die nicht hätten fliehen müssen. Aber Obama wollte nicht.
Die Leitlinien Europas: Zaudern und Kleinmut
Selbst ab 2017 hätte es noch die Möglichkeit gegeben, zumindest den kurdischen Nordosten und Idlib zu schützen. Die US-Regierung unter Donald Trump bat wieder und wieder um europäische Truppen im Kampf gegen den "Islamischen Staat". Bis auf eine winzige Entsendung aus Frankreich kam niemand.
Im September 2017 schloss die Türkei mit Russland ein Abkommen, das einen Waffenstillstand für Idlib im Austausch mit einer Entwaffnung der al-Qaida-nahen Radikalenmiliz HTS, vormals Nusra-Front, vorsah. Anstatt sich zu bemühen mit Druck und Hilfe, dass die Türkei HTS auch entwaffnet (was sie nicht tat) und das Abkommen als Basis zu nutzen, den Schutz der heute um ihr Leben Fliehenden zu sichern, geschah das Gegenteil: Selbst zivile Hilfe wurde fast völlig eingestellt, denn die Partnerorganisationen könnten ja in Kontakt mit den Dschihadisten kommen. Was denen am Ende half.
Zaudern und Kleinmut waren über Jahre die Leitlinien Europas und der USA. Wenn die rebellischen Syrer keine perfekt organisierte, möglichst areligiöse Opposition auf dem Silbertablett servieren konnten, ließ man sie halt untergehen.
Sei es der Abwurf von Fassbomben, Chlorgas, seien es die gezielten Attacken syrischer und russischer Jets auf Krankenhäuser, Schulen, Märkte: Stets machten das Assads Regime und Putin die Erfahrung, damit davonzukommen.

Kriegsverbrecher Assad und Putin: Die Gewalt langsam gesteigert
Foto: Mikhail Klimentyev/ APZusätzlich sorgte vor allem Moskaus Propagandaapparat dafür, dass Massaker oder Chemiewaffeneinsätze geleugnet, den Rebellen angelastet, zu Unfällen erklärt wurden, egal, was. Es genügte, Zweifel zu säen. Zuletzt verkündete Moskau, es seien ja gar keine Hunderttausenden Menschen in Idlib auf der Flucht - allen Berichten, Videos, Fotos von dort zum Trotz.
Baschar al-Assad hat die eigene Bevölkerung mit allem umbringen lassen, was die Arsenale hergeben. Eines allerdings kann man dem Sohn des Putschgenerals, der 1970 die Familiendynastie begründete, nicht vorwerfen: dass er die Welt im Unklaren darüber gelassen hätte, was er vorhat.
Als ich vor fast acht Jahren, im April 2012, durch dieselben Städte Idlibs reiste, die heute in Trümmer gelegt werden, war eine Einheit der Armee zuvor durch Orte gerollt, deren Bewohner sich gegen die Diktatur gestellt hatten. Es war nur ein Vorgeschmack des kommenden Unheils. Aber vielerorts hatten die Soldaten ein Graffiti in riesigen Lettern auf den Mauern hinterlassen: "Assad für immer, oder wir brennen das Land nieder!"
Das war sein Programm der kommenden Jahre. Lieber Syrien einäschern, als die Macht abzugeben. Fein dosiert.
Als das Regime nach Russlands Eingreifen 2015 langsam Stadt um Stadt zurückgewann, wurden fortan die "Unversöhnlichen" aller Orte nach Idlib deportiert: Rebellen, ebenso gewählte Stadträte, Nothelfer, Journalisten, Ärzte. Von Idlib aus gibt es keinen Fluchtort mehr.

Flüchtlingskonvoi in Idlib: Letzter Zufluchtsort
Foto:AREF TAMMAWI/ AFP
Und auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan merkt nun, dass er mit seiner Männerfreundschaft zu Wladimir Putin in eine Abhängigkeit gestolpert ist, die Moskau in aller Härte ausspielt. Russische Jets bombardieren Idlib weiter, machen dabei nicht einmal vor türkischen Truppen Halt.
Idlib wird nun der Schlussakt, an dem eine abgestumpfte Welt auf ein Assad-Regime trifft, das vor seinem letzten Sieg keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht.
Dessen prominentester Feldkommandeur schon vor einer Weile klarmachte, was die Ausweglosen, nach Uno-Angaben 60 Prozent von ihnen Kinder, zu erwarten haben: "Ich befehle, auf dem Schlachtfeld die Kinder vor den Erwachsenen, die Frauen vor den Männern umzubringen", verkündete Suhail al-Hassan, Chef der sogenannten Tigerbrigade: "Wir werden es keinem Terroristen mehr gestatten, unter uns zu leben."
Auslöschung mit Ansage
Das Muster wiederholt sich. Jeder der westlichen Warner von heute weiß, welchen Wert die immer gleichen Warnungen an Assad seit 2011 gehabt haben. Auch das Mantra deutscher Außenminister, es könne, dürfe keine militärische Lösung in Syrien geben, hat in seiner praktischen Konsequenz das Gegenteil der hehren Absicht bewirkt: Assad, seine iranisch koordinierten Bodentruppen und Russlands Luftwaffe haben ungestört eben ihre militärische Lösung durchsetzen können.
Schritt für Schritt, Stadt um Stadt, neun Jahre lang. Eine Auslöschung mit Ansage. Moskaus letzter Vorschlag war ein sechs Kilometer breiter Streifen entlang der türkischen Grenze. Da könnten drei Millionen Menschen ja bleiben. Assad will mehr: Die gegenwärtigen Geländegewinne seien nur "der Auftakt zum Endsieg", den kommende Schlachten bringen würden.
Wenn es vorbei ist, wird die verbale Entschlossenheit der Sonntagsreden in Berlin, Paris, Washington et al. wieder anwachsen. So etwas, wird es dann ungefähr heißen, dürfe sich nie wiederholen.