Iranische Menschenrechtsanwältin Sotoudeh erhält alternativen Nobelpreis Stimme der Stummen

Kämpft für mehr Menschenrechte in Iran: Nasrin Sotoudeh
Foto: UPI Photo / imago imagesEs ist ein sonniger Nachmittag im Mai 2015. Vor dem Sitz der iranischen Anwaltskammer im Zentrum der Hauptstadt Teheran protestiert eine Handvoll Menschen mit einem Transparent. Unter ihnen sind der Filmregisseur Jafar Panahi und eine auffallend zierliche, ernste Frau mit tiefen Augenringen: die Anwältin Nasrin Sotoudeh.
Sotoudeh hat bis 2013 im Gefängnis gesessen. Sie hatte Aktivisten verteidigt, die bei der Niederschlagung der Grünen Revolution 2009 verhaftet worden waren und landete dafür selbst hinter Gittern. Nun ist sie frei, aber die iranische Justiz hat ihr und einigen Kollegen die Anwaltslizenz entzogen.
Einmal in der Woche stehen sie vor der Kammer und verlangen ihr Recht zurück, als Anwälte zu arbeiten. Hat sie keine Angst, erneut verhaftet zu werden? »Angst«, sagt Sotoudeh, »ist das schlimmste Gefängnis.« Schlimmer als Haft sei es, draußen zu sein und die eigenen Mandanten nicht vertreten zu dürfen. 2018 wird sie wieder verhaftet und zu 38,5 Jahren Gefängnis und 145 Peitschenhieben verurteilt.
Inzwischen ist Sotoudeh, 57, zum Symbol für den friedlichen Protest für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte in Iran geworden. Nun wird die unbeugsame Anwältin mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Die international besetzte Preisjury würdigt ihr »furchtloses Engagement, unter hohem persönlichem Risiko, zur Förderung politischer Freiheiten und der Menschenrechte in Iran«.
Erste Iranerin, die den alternativen Nobelpreis erhält
Sotoudeh ist die erste Iranerin, die den Preis erhält. Neben ihr werden der belarussische Aktivist Ales Beljazki mit dem Menschenrechtszentrum Wjasna sowie der US-amerikanische Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson und Lotte Cunningham Wren, Aktivistin für die Rechte indigener Menschen und Umweltschutz aus Nicaragua, geehrt. Das verkündete die schwedische Right Livelihood Foundation in Stockholm. Der Right Livelihood Award, der auch als Alternativer Nobelpreis bezeichnet wird, ist für jeden der vier Preisträger mit einer Million Kronen (etwa 95.000 Euro) dotiert.
Sotoudehs Ehemann Reza Khandan dankte im Namen der Preisträgerin für die Auszeichnung und bezeichnete sie als »Zeichen der Unterstützung für gefährdete Menschenrechtsverteidiger und Anwälte« und »große Hilfe bei der Förderung von Menschenrechten«.
Sotoudeh, die aus einer traditionell-religiösen Familie in Iran stammt, hatte ihre Arbeit als Anwältin mit der Verteidigung von Kinderrechten begonnen. Sie vertrat Kinder und Jugendliche, die missbraucht und misshandelt wurden, ein schwieriges Anliegen in der Islamischen Republik, wo Väter fast unbeschränkte Rechte genießen. Später zählten zunehmend auch politische Gefangene und Frauenrechtlerinnen zu Sotoudehs Mandanten, darunter die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi.
2006 rief Sotoudeh gemeinsam mit anderen Iranerinnen die Aktion »1 Million Unterschriften« ins Leben, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Islamischen Republik fordert. Sie verteidigte auch eine Reihe von jungen Frauen, die 2018 aus Protest gegen die islamische Kleiderordnung in Iran, ihre Kopftücher abgenommen hatten. Daraufhin wurde sie erneut verhaftet und sitzt seitdem in Teherans berüchtigtem Evin-Gefängnis ein.
Trotz Corona – für politische Gefangene kein Hafturlaub
Sotoudeh tritt immer wieder in Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren und die Freilassung von politischen Gefangenen zu erwirken. Zuletzt beendete sie am vergangenen Wochenende einen mehr als 40 Tage dauernden Hungerstreik, nachdem sie kurzzeitig mit Herzproblemen im Krankenhaus behandelt werden musste.
Sie hatte mit ihrem Protest Hafturlaub für politische Gefangene erreichen wollen, die durch die Ausbreitung von Covid-19 in iranischen Gefängnissen gefährdet sind. Während viele andere Häftlinge die überfüllten Gefängnisse zumindest zeitweilig verlassen durften, um eine Ansteckung mit dem Virus zu verhindern, gab es für politische Gefangene keinen Hafturlaub.
Sotoudehs Kampf erhält zunehmend internationale Aufmerksamkeit. Sie wurde mit dem Sacharow-Preis der Europäischen Parlaments und mit dem Preis des Deutschen Richterbundes ausgezeichnet, der amerikanische PEN-Club sowie zahlreiche ehemalige und aktive Politiker setzen sich für sie ein. Ehemann Khandan dankte jetzt für die nationale und internationale Unterstützung, die weitaus größer sei, als der Druck der Regierung in Iran.
»Unsere Familie macht sehr schwierige Tage durch«
Doch Sotoudeh und ihre Familie bezahlen für ihren Kampf einen hohen Preis. Auch ihr Ehemann und die Tochter Mehraveh, 21, waren schon inhaftiert. Der jüngere Sohn musste über lange Zeiten seiner Kindheit die Mutter entbehren. Der Druck der iranischen Regierung richte sich gegen die ganze Familie, sagt Reza Khandan: »Unsere Familie macht sehr schwierige Tage durch.«
Vor zwei Jahren kam ein Gespräch des SPIEGEL mit Khandan nicht zustande, weil er am Morgen der Verabredung verhaftet worden war. Bei einer Wohnungsdurchsuchung hatten die Sicherheitskräfte Anstecker gefunden, auf denen die Abschaffung des Kopftuchzwangs gefordert wurde. Anstelle des Vaters war Tochter Mehraveh, damals 19, bereit, mit dem SPIEGEL zu reden.
»Meine Mutter kann Ungerechtigkeit nicht ertragen«
Im Wohnzimmer der Familie hatten sich Freunde und Verwandte versammelt, um die beiden Kinder des inhaftierten Paares zu unterstützen. Sie akzeptiere, was ihre Mutter tut, sagte Mehraveh damals. »Meine Mutter kann Ungerechtigkeit nicht ertragen, sie ist Anwältin, sie setzt sich für das Recht ein und tut nichts gegen das Gesetz.«
Als Nasrin Sotoudeh in der vergangenen Woche kurzzeitig vom Evin-Gefängnis auf die kardiologische Station einer Teheraner Klinik verlegt wurde, konnten Khandan und die zwei Kinder sie zum ersten Mal seit vielen Wochen wieder sehen. Die Kinder seien schockiert gewesen, so Khandan, ihre Mutter in diesem Zustand zu sehen. »Man kann die Kinder nicht aus all dem heraushalten, sie sind mitten hineingeraten, ohne diesen Weg zu wählen«, so Khandan. Das laste auf dem Gewissen und sei für ihn und seine Frau »ein doppelter Druck«.
Mit dem alternativen Nobelpreis ist nun die Hoffnung verbunden, dass Sotoudeh national und international noch stärker zur Symbolfigur des Widerstands gegen Willkür, Menschenrechtsverletzungen und die Diskriminierung von Frauen in der Islamischen Republik wird. Manche sehen die zarte Frau mit dem eisernen Willen und den unbestechlichen Prinzipien schon als einen iranischen »Nelson Mandela«.