Umweltverschmutzung in Italien Der Kampf der Mütter aus der roten Zone

Das Risiko befand sich direkt in ihrer Nachbarschaft: In Norditalien waren Hunderttausende Menschen jahrelang gefährlichen Chemikalien einer Fabrik ausgesetzt. Eine Gruppe von Müttern kämpft nun um Gerechtigkeit.
Von Jan Petter und Chiara Negrello (Fotos), Hamburg und Florenz
Eine der Mütter von »Mamme NoPFAS« in Noventa Vicentina

Eine der Mütter von »Mamme NoPFAS« in Noventa Vicentina

Foto: Chiara Negrello
Globale Gesellschaft

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Es war ein gefaltetes Blatt Papier, das im Juni 2017 das Leben von Michela Zamboni veränderte. Schwarz auf weiß stand dort, was die Italienerin zuvor nur befürchtet hatte: Auch ihre Tochter hat stark erhöhte Spuren von PFAS im Blut. Das Kürzel steht für per- und polyfluorierte Alkylverbindungen; es geht um Stoffe, die beispielsweise Wasser und Öl abweisen und deshalb in verschiedensten Produkten wie Outdoorjacken oder Teflonpfannen zu finden sind. Und sehr wahrscheinlich weitreichende Folgen für den Menschen haben können.

Die Fluorverbindungen stehen im Verdacht , ins Immunsystem einzugreifen, der Leber zu schaden und Ungeborene zu beeinträchtigen. Die Europäische Umweltagentur vermutet, dass sie im Mutterleib die Entwicklung ungeborener Kinder hemmen und später die Pubertät verzögern. Bei Jungen verringern sie womöglich ein Leben lang die Spermienqualität. Vor allem aber sind es Stoffe, die womöglich nie wieder ganz aus unserer Umgebung – und unseren Körpern – verschwinden. PFAS gehören zu den langlebigsten Verbindungen, die bekannt sind. Die bekanntesten Formen PFOS und PFOA sind vielerorts mittlerweile verboten, Behörden haben in den vergangenen Jahren die Grenzwerte für andere Varianten weiter gesenkt und prüfen die gesundheitlichen Risiken.

Eine der Mütter, die sich um Aufklärung bemühen und von Politikern und Unternehmen mehr Transparenz fordern. In der ganzen Region sind es vor allem Frauen, die den Protest vorantreiben

Eine der Mütter, die sich um Aufklärung bemühen und von Politikern und Unternehmen mehr Transparenz fordern. In der ganzen Region sind es vor allem Frauen, die den Protest vorantreiben

Foto: Chiara Negrello

Es ist eine unsichtbare Gefahr, eine, die man nicht sehen, nicht hören und auch nicht schmecken kann. Bei Michela Zamboni kam sie vermutlich aus dem Wasserhahn. Nur wenige Kilometer entfernt stand jahrzehntelang eine Fabrik des Chemiekonzerns Miteni, der sich auf die Herstellung entsprechender Produkte spezialisiert hatte. Die dabei entstandenen Abwässer durfte das Unternehmen in mehrere Flüsse einleiten. Inzwischen ist das Unternehmen bankrott, doch die Spuren der PFAS lassen sich bis heute im Wasser finden.

Die Region Venetien, in der Zamboni lebt, ist eine der dicht besiedeltsten Italiens, der Norden ist das industrielle Herz des Landes. Dass Chemieunternehmen wie Miteni hier produzierten, war jahrzehntelang Grundlage wachsendes Wohlstands. Ähnlich wie bei Asbest dauerte es Jahrzehnte, ehe auch die Schattenseiten mancher Chemikalien erkannt wurden. Mindestens 350.000 Menschen, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, waren oder sind in der Gegend den erhöhten PFAS-Werten ausgesetzt.

Extrem hohe Messwerte im Wasser

Die Stoffe sammeln sich im Grundwasser, werden von dort abgepumpt oder mit jedem stärkeren Regen wieder an die Oberfläche gespült, auf Felder und in Seen. Über das Trinkwasser gelangten sie über Jahre in Haushalte, durch Schwangerschaft und Stillen von Müttern auch an Ungeborene und Säuglinge. Diese scheinen besonders gefährdet, weil die Stoffe ihre Entwicklung beeinträchtigen könnten.

Standardmäßig gemessen werden die Werte jedoch nicht, es gibt zahllose Varianten von industriell genutzten Fluorverbindungen, nicht für alle existieren bislang eindeutige Grenzwerte.

Als die Gefahr in Venetien 2013 durch ein Forschungsprojekt der EU entdeckt wurde, war es ein Thema, das zunächst wenige Menschen interessierte. Örtliche Bürgermeister wehrten sich gegen den Eindruck, ihre Gegend sei womöglich einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Einige tranken gar demonstrativ ein Glas Wasser. Doch die PFAS-Werte, die Wissenschaftler entdeckten, gehörten laut WHO zu den höchsten, die bis dahin in Trinkwasser gemessen wurden.

Michela Zamboni vor dem Gerichtssaal in Vicenza. Sie war eine der Frauen, die die Fotografin Chiara Negrelli bei ihrer Recherche zum Thema begleitete

Michela Zamboni vor dem Gerichtssaal in Vicenza. Sie war eine der Frauen, die die Fotografin Chiara Negrelli bei ihrer Recherche zum Thema begleitete

Foto: Chiara Negrello

Im Winter 2016 begann deshalb in 21 Orten der Region eine bis dahin kaum vorstellbare Überprüfung: 85.000 Personen über 14 Jahren wurden dafür untersucht. Bei vielen waren die im Blut nachgewiesenen Werte deutlich erhöht. Plötzlich kam das Thema ganz konkret im Leben vieler Menschen an.

So wie Michela Zamboni erfuhren nun Tausende Eltern, dass sie und ihre Kinder möglicherweise einem unsichtbaren Risiko ausgesetzt waren. »Für viele war das ein Schockmoment«, sagt die Fotografin Chiara Negrello, die das Thema seitdem begleitet. »Manche der Familien waren bewusst aufs Land gezogen, um ihren Kindern ein Leben in der Natur zu ermöglichen. Doch auf einmal war diese Umgebung eine Gefahr. Gemüse, Trinkwasser – alles schien das Gift weitergeben zu können. Das hat viele geprägt, ihr Grundvertrauen wurde erschüttert.«

Viele Mütter fühlten sich schuldig, dann kam die Wut

Viele Mütter hätten anfangs auch Schuldgefühle geplagt, erzählt die Fotografin. Waren sie es, die die gesundheitsgefährdenden Fluorverbindungen mit der Muttermilch an ihre Kinder weitergegeben hatten? Aus dieser Angst erwuchs Wut. Und aus den einzelnen Familien ein Netzwerk, das die Aufklärung des Skandals bis heute vorantreibt.

In der Chemiefabrik und in den örtlichen Kläranlagen wurden nach der Aufdeckung des Falls im Jahr 2013 Aktivkohlefilter installiert. Die gemessenen Werte im Leitungswasser sanken daraufhin unter die Grenzwerte. Für viele Betroffene könnte es dennoch zu spät sein, die Produktion lief davor schließlich mehrere Jahrzehnte.

Die Region ist heute in drei Zonen unterteilt, in denen die gemessene Konzentration von PFAS unterschiedlich hoch war. Die »Zona rossa«, die rote Zone, besteht aus den 13 am stärksten betroffenen Gemeinden. Hier leben besonders viele Mütter, die sich heute um Aufklärung bemühen. Die »Mamme NoPFAS« haben in den vergangenen Jahren Demonstrationen organisiert, Konferenzen besucht und nicht zuletzt Klage eingereicht.

Mit Erfolg: Seit Anfang des Jahres stehen 15 Manager der ehemaligen Chemiefabrik in Vicenza vor Gericht. Den Verantwortlichen drohen Millionenstrafen und langjährige Haft, es ist eines der größten Umweltverfahren in der italienischen Geschichte. Viele der Frauen stehen heute ebenfalls vor Gericht – als Nebenklägerinnen.

Sehen Sie hier, wie der Konflikt um verunreinigtes Wasser den Alltag vieler Familien prägt und das Leben von Frauen aus der »roten Zone« verändert hat:

Fotostrecke

Der Kampf der Mütter aus der roten Zone

Foto: Chiara Negrello

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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