Coronakrise in Italien Vorschlag mehrerer Regionen – Senioren sollen zu Hause bleiben

Casalpusterlengo in der norditalienischen Region Lombardei: Betagter Fahrradfahrer im Gespräch mit Polizisten
Foto: Luca Bruno/ AP/ DPADas Chaos und die Verzweiflung in Italien angesichts des Systemversagens in der Coronakrise im März haben viele noch vor Augen. Die Bilder der Särge, die in Bergamo von der Armee abtransportiert wurden, die Gesichter der erschöpften Mediziner haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Länder wie Deutschland haben von der frühen Pandemie-Erfahrung Italiens gelernt und erfolgreich Gegenmaßnahmen ergriffen. Trotzdem sind auch mitten in der zweiten Covid-19-Welle Patentrezepte rar - diesseits wie jenseits der Alpen.
Die Regierung in Rom tut sich schwer mit einheitlichen Maßnahmen. Ministerpräsident Giuseppe Conte verliert angesichts rasant steigender Infektionszahlen massiv an Popularität bei den Bürgern, wie eine Umfrage des Forschungsinstituts Ipsos vom Samstag ergab.
Italien mit seinen 60 Millionen Einwohnern meldete am Samstag 31.758 Neuinfektionen in 24 Stunden, dazu 297 neue Todesopfer. Am Sonntag waren es 29.907 neue Fälle und 208 Tote.
Gesundheitsminister Roberto Speranza nannte die steigende Zahl der Ansteckungen entsetzlich und forderte, schnell zu handeln: "Wir haben 48 Stunden, um zu versuchen, die Verschärfung auf den Weg zu bringen", sagte er dem "Corriere della Sera". "Es sind zu viele Menschen unterwegs."
Man müsse die Italiener davon überzeugen, so viel wie möglich zu Hause zu bleiben. Noch stünden die Intensivstationen nicht vor dem Kollaps, aber der Druck steige. Alle Zeichen stehen auch in Italien auf Teil-Shutdown. Ohne eine gesunde Bevölkerung wird sich die Wirtschaft nicht von der Coronakrise erholen, davon ist inzwischen auch Ministerpräsident Conte überzeugt.
Neue Einschränkungen per Dekret
Am Montag will Conte in beiden Kammern des Parlaments in Rom Erklärungen abgeben und anschließend per Dekret neue Restriktionen erlassen, berichten Medien. Bereits am Sonntag beriet die Regierung mit Vertretern aus den 20 Regionen, Bürgermeistern und Experten. Eine Ausgangssperre ab 18 Uhr war im Gespräch, auch die Schließung von Einkaufszentren und Wettannahmestellen in Bars und Tabakläden am Wochenende standen zur Diskussion.
Metropolen mit hohen Corona-Zahlen wie Neapel oder Genua könnten zu "roten Zonen", also Sperrgebieten, werden. Auch Reisen zwischen den Regionen sollen eingeschränkt werden. Insgesamt setzen die Regionen auf lokale Zuständigkeit, um unmittelbar auf das aktuelle Infektionsgeschehen zu reagieren.
Allerdings sprachen sich die von Mitte-rechts-Parteien regierten Regionen Ligurien, Piemont und Lombardei gegen lokale Lockdowns aus. "Wenn wir Mailand dichtmachen, machen wir die ganze Lombardei dicht", sagte der Regionalgouverneur Attilio Fontana von der rechten Partei Lega. Ein Lockdown sei nur auf nationaler Ebene sinnvoll.
Der Vorschlag der drei Regionen im Norden: Man solle die Bewegungsfreiheit der über 70-Jährigen einschränken. Ein Tweet des ligurischen Regionalpräsidenten Giovanni Toti, Gründer der Mitte-rechts-Partei "Cambiamo!", löste in diesem Zusammenhang Empörung aus: Von 25 Covid-19-Toten in Ligurien seien 22 sehr betagt gewesen, mithin bereits in Rente und "nicht unentbehrlich für die produktive Anstrengung des Landes", schrieb Toti.
Per quanto ci addolori ogni singola vittima del #Covid19, dobbiamo tenere conto di questo dato: solo ieri tra i 25 decessi della #Liguria, 22 erano pazienti molto anziani. Persone per lo più in pensione, non indispensabili allo sforzo produttivo del Paese che vanno però tutelate.
— Giovanni Toti (@GiovanniToti) November 1, 2020
Die Alten, so der Subtext, können ruhig zu Hause bleiben, weil sie ohnehin keine Wirtschaftsleistung mehr erbringen und durch einen derartigen Lockdown auch die Zahl der Corona-Toten niedriger ausfällt. Später entschuldigte sich Toti für seine Äußerung, die missverstanden worden sei.
Auch Lega-Chef Matteo Salvini wittert in einem erneuten Lockdown eine "Katastrophe": "Anstatt 60 Millionen Italiener zu bestrafen, einzusperren, zu verfolgen, sollte man sich auf die Menschen konzentrieren, die das größte Risiko haben zu erkranken, auf die, die älter sind als 70", sagte er in einem Instagram-Post.
Mit der steigenden Zahl von Infektionen im Bekanntenkreis wird anscheinend bei den Italienern auch die Angst vor Covid-19 größer. Laut einer neuen Erhebung, aus der die Zeitung "Il Fatto Quotidiano" zitiert, sind sechs von zehn Italienern für eine Ausgangssperre für Menschen über 65, die Vorerkrankungen haben.
Steine und Feuerwerkskörper gegen die Polizei
Die Mitte-links-Regierung hatte im Oktober fast im Wochenrhythmus neue Regeln und Notdekrete erlassen - ohne sichtbaren Erfolg. Im Land gilt seit mehr als drei Wochen eine Maskenpflicht. Theater und Kinos wurden per Erlass geschlossen, Bars und Restaurants dürfen nur noch bis 18 Uhr Gäste bedienen. Für den Unterricht an Gymnasien wurde ein teilweiser Online-Unterricht angeordnet.
Der Präsenzunterricht in Schulen ist wie in Deutschland heftig umstritten. Schon beim ersten italienweiten Lockdown im Frühjahr waren viele Eltern wütend, weil die Schulen danach bis zum Ende der Sommerferien geschlossen blieben.
Im Laufe der Woche mehrten sich die Proteste von Verbänden und Bürgern gegen die Verschärfungen. Dabei kam es teilweise zu Krawallen und Auseinandersetzungen mit der Polizei, etwa am Freitag in Florenz und am Samstag in Rom, wo Demonstranten mit Flaschen, Steinen und Feuerwerkskörpern warfen, Mülltonnen umwarfen und Überwachungskameras zerstörten. Politiker machten Neofaschisten, jugendliche Straftäter und linke Extremisten für Übergriffe verantwortlich. Es gab rund 20 Festnahmen.