Nach dem geschlossenen Rücktritt der Opposition "Hongkong wird erdrückt"

James To ist der dienstälteste Abgeordnete des Hongkonger Legislativrates. Er macht China für das Ende des Parlamentarismus in der früheren britischen Kronkolonie verantwortlich.
Ein Interview von Bernhard Zand, Hongkong
Warnt vor China: James To

Warnt vor China: James To

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South China Morning Post / Getty Images

Der Anwalt James To Kun-sun, 57, ist seit 1991 gewählter Abgeordneter des Legislativrates, des halbdemokratischen Hongkonger Parlaments. Politisch von der Niederschlagung des Tiananmen-Aufstandes 1989 geprägt, zählte er zu den Mitbegründern der Demokratischen Partei, der er bis heute angehört.

Am Donnerstag trat mit To und 15 weiteren Abgeordneten die gesamte Opposition zurück - aus Protest gegen den Ausschluss von vier Mitgliedern des gemeinsamen prodemokratischen Bündnisses. Damit endet der Versuch, in der früheren britischen Kronkolonie unter chinesischer Herrschaft ein parlamentarisches System zu errichten. Die von Peking dominierte Hongkonger Stadtregierung kann nun ohne Widerstand durchregieren. 

SPIEGEL: Herr To, Sie saßen 29 Jahre lang in Hongkongs Parlament, sechs Jahre davon unter britischer, 23 Jahre unter chinesischer Herrschaft. Was geht Ihnen an Ihrem letzten Tag als Abgeordneter durch den Kopf?

To: Ich bin traurig, dass das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme", unter dem der Reformpolitiker Deng Xiaoping die Rückgabe Hongkongs an China eingeleitet hat, gescheitert ist. Und ich frage mich, warum das so gekommen ist: Liegt es daran, dass Chinas neue Führung einfach so anders denkt als Deng? Oder liegt es daran, dass die Führung so verunsichert ist, dass sie selbst in Hongkong keine Opposition ertragen kann?

SPIEGEL: Was halten Sie für wahrscheinlicher?

To: Man sollte annehmen, dass sich China heute groß und mächtig fühlt. Aber vielleicht ist das gar nicht so. Vielleicht beunruhigt die weltpolitische Lage die Führung so, dass sie sich verwundbar fühlt. Und deshalb wird Hongkong erdrückt, um China vor seinem Einfluss zu beschützen.

SPIEGEL: Wie empfinden Sie es persönlich, dass Ihre Laufbahn als Gesetzgeber heute endet?

To: Meine eigene Laufbahn spielt an so einem Tag wirklich keine Rolle. Junge Hongkonger sitzen im Gefängnis, manche von ihnen fühlen sich gezwungen, in Ländern wie Deutschland um Asyl zu bitten. In den kommenden Tagen muss ich meine Mitarbeiter entlassen – die wahren Helden, die jahrelang mit mir getan haben, was ein Parlament zu tun hat: die Regierung kontrollieren. Sie sind inzwischen so gut darin, dass ich mir vielleicht gar keine Sorgen um sie machen sollte. Die merken schneller als irgendjemand sonst, wo sich Machtmissbrauch und Korruption breitmachen. Sie werden neue Arbeitsplätze finden.

SPIEGEL: Wie schwer ist Ihnen und den anderen 15 prodemokratischen Abgeordneten die Entscheidung zum gemeinsamen Rücktritt gefallen?

To: Überhaupt nicht schwer. Diese Entscheidung fiel binnen fünf Minuten – übrigens schon nach der Verabschiedung des nationalen Sicherheitsgesetzes im Sommer. Wenn einer von uns ausgeschlossen wird, da waren wir uns einig, dann treten wir alle zurück.

SPIEGEL: Genau so ist es nun gekommen. Vier Abgeordnete wurden disqualifiziert. Warum, glauben Sie, hat Peking so entschieden?

To: Zur Zeit wird berichtet, dass sich Parteikader in Peking kürzlich eine Hongkonger Parlamentssitzung im Fernsehen ansahen und einfach zornig waren. Da haben wir nun ein so strenges Staatssicherheitsgesetz erlassen, sollen sie gesagt haben – wie kann es da sein, dass diese Abgeordneten immer noch so frech sind? Wie können die weiterhin über alles und jedes debattieren? Vom Parkuhr-Gesetz über die Sicherheit von Containerschiffen bis zum Wahlrecht für Auslands-Hongkonger – als wäre nichts geschehen!

SPIEGEL: Die vier Disqualifizierten galten als gemäßigt.

To: Ich habe in meinen fast 30 Jahren jedenfalls ganz andere Abgeordnete erlebt. Gerade diese vier zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit zu erklären, zwei Anwälte, einen Arzt und einen Buchhalter – das ist schockierend. Um eine Idee wie "Ein Land, zwei Systeme" zwischen etwas so Großem wie China und einer Stadt wie Hongkong ins Werk zu setzen, braucht es ein Mindestmaß von Entgegenkommen. Deng Xiaoping wusste das. Ohne Geduld, ohne Toleranz geht das nicht.

SPIEGEL: Selbst wenn Sie sich rasch einig waren – viele Hongkonger waren das nicht. Einer Umfrage zufolge war etwa eine Hälfte der Befragten dafür, dass Sie das Parlament verlassen, die andere dagegen.

To: Das war vor dem Ausschluss der vier Abgeordneten. Und für mich war die Lage von Anfang an klar: Solange es noch den geringsten Spielraum für uns gab, war ich entschlossen weiterzumachen. Aber selbst diesen Spielraum haben wir nun verloren.

SPIEGEL: Nach dem Rückzug hat die prodemokratische Mitte der Gesellschaft aber nun praktisch keine parlamentarische Vertretung mehr.

To: Unsere Stadt hatte früher eine breite, gemäßigte Mitte. Wenn Sie vor zehn Jahren fragten, wer für die Unabhängigkeit Hongkongs ist, dann war das eine verschwindende Minderheit. Heute sind es, je nach Umfrage, 10 bis 15 Prozent. Wenn Sie früher fragten, wer Gewalt als ein legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung sieht, waren das drei Prozent. Heute sind es 29 Prozent. Eine fürchterliche Zahl. Es ist Pekings Versagen im Umgang mit Hongkong, das diese Entwicklung ausgelöst hat.

SPIEGEL: Peking hat in den vergangenen Jahren manchmal minimale Zugeständnisse angedeutet, wenn es um die Forderung nach mehr Demokratie ging. Bereuen Sie, dass Sie auf diese Angebote nicht eingegangen sind?

To: Das haben wir 23 Jahre lang versucht, und das Ergebnis hat genau zu unserer Entscheidung geführt: Diese Angebote sind bedeutungslos. Ich kenne meine Wähler, ich bin stets mit einem sehr hohen Stimmenanteil im Amt bestätigt worden. Sie würden mich verdammen, wenn ich heute noch im Parlament bleiben würde.

SPIEGEL: Was werden Sie jetzt tun, was sind die nächsten Schritte?

To: Zur Stunde werden unsere Mitarbeiter informiert, wie der Auszug aus dem Parlament abzulaufen hat, wann wir unsere Möbel abholen und unsere Büros räumen müssen. Wir werden dafür etwa ein Monat Zeit bekommen. Die werde ich brauchen, denn bei mir ist da in 29 Jahren viel zusammengekommen.

SPIEGEL: Und was machen Sie, wenn Sie damit fertig sind?

To: Dann lese ich in den drei Büchern weiter, die ich mir kürzlich gekauft habe. Dort geht es übrigens um Deutschland, um die Stasi-Akten, die nach der Wende an die Öffentlichkeit kamen. Ich möchte genauer wissen, wie diese autoritären Regime genau arbeiten, unter welchen Paragraphen sie Bürger anklagen, wie die Straftatbestände heißen, mit denen sie hantieren: "illegale Kommunikation mit ausländischen Elementen" zum Beispiel. Ich bin Anwalt. Ich werde diese Informationen brauchen.

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