Biden-Berater über Nukleare Teilhabe "Das trifft den Kern der transatlantischen Idee"
Die Biden-Berater Michèle Flournoy und Jim Townsend werfen dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Ralf Mützenich vor, mit seinem Vorschlag für ein atomwaffenfreies Deutschland die Nato zu schwächen.

Tornado-Kampfflugzeug auf dem Fliegerhorst Büchel, Rheinland-Pfalz, 1. April 2020
Foto: Thomas Frey / DPADer Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich hat einen Rückzug Deutschlands aus der nuklearen Teilhabe der Nato gefordert. Damit hat eine unter Fachleuten seit Langem schwelende Debatte die Öffentlichkeit erreicht. Mützenich begründet seine Position damit, dass die Politik der derzeitigen US-Regierung den Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlicher mache.
Aus jahrzehntelanger Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Deutschland in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen wussten wir, dass diese Debatte kommen würde. Sie begann, als klar war, dass die Bundeswehr ihre Tornado-Flugzeuge würde ersetzen müssen. Deutsche Verteidigungsexperten diskutierten, ob sich ihr Land weiterhin an der Nato-Nuklearmission beteiligen und die zusätzlichen Kosten übernehmen solle, die damit verbunden sind. Einige Deutsche fragen sich, ob es sinnvoll ist, wenn deutsche Piloten Nukleareinsätze fliegen, die Städte in der Bundesrepublik für einen nuklearen Vergeltungsschlag verwundbar machen könnten.
Als US-Verteidigungsexperten kennen wir die technischen Fragen, die Teil dieser Debatte sind, sehr gut: Von der Abschreckungstheorie bis hin zu den praktischen Möglichkeiten, einen nuklearen Sprengsatz ans Ziel zu bringen. Aber für Amerika geht es in dieser Debatte um viel mehr als nur um technische Spezifikationen.
Die USA und die Nato-Nationen - einschließlich Deutschlands - haben sich dazu verpflichtet, die Last und das Risiko der nuklearen Abschreckung gemeinsam zu tragen. Im Gegenzug haben die USA ihren nuklearen Schutzschild über Europa aufgespannt. Sie nahmen damit bewusst in Kauf, dass diese Garantie das Risiko eines atomaren Angriffs auf amerikanische Städte erhöhen würde. Diese Verpflichtung, das Risiko gemeinsam zu tragen, stärkte das Vertrauen und die Solidarität unter den Bündnispartnern und verschränkte die amerikanische Nuklearpolitik mit den Interessen der Europäer. Eine russische atomare Bedrohung, die sich ausschließlich gegen Europa richtet, könnte von den Europäern mit amerikanischen Atomwaffen beantwortet werden. Die Russen wären nicht in der Lage, Europa allein mit Atomwaffen zu erpressen, ohne dass Europa eine nukleare Antwort darauf hätte.
Ein gravierender Traditionsbruch
Die Abkehr Deutschlands von dem Versprechen, die nukleare Last zu teilen, trifft den Kern der transatlantischen Idee. Wenn andere Nato-Mitglieder dem deutschen Beispiel folgten, dann würde die nukleare Abschreckung der USA von Europa abgekoppelt. Für eine Nation wie Deutschland, die auf ihren Multilateralismus stolz ist, bedeutet dieser Angriff auf die gemeinsamen Verpflichtungen in der Nato einen gravierenden Traditionsbruch.
Dies geschieht zu einer Zeit, in der Russland aktiv versucht, die transatlantische Einheit zu untergraben. Moskau investiert massiv in die Modernisierung seines nuklearen Arsenals, einschließlich der auf Europa gerichteten Waffen. Seine Militärdoktrin beruht auf der Idee der "Eskalation zur Deeskalation", das heißt, der Gegner soll zu Beginn eines Konflikts nuklear bedroht werden, um seine Entschlossenheit zu brechen.
Diskutieren allein reicht nicht mehr
Es ist wichtig, dass Deutschland öffentlich und umfassend über seine Sicherheitspolitik diskutiert. Deutschland hat sich lange gescheut, aufgrund seiner Geschichte geopolitisch und strategisch zu denken. Man wollte vor allem Mustereuropäer und vorbildliches Nato-Mitglied zu sein.
Doch in diesen Zeiten reicht das nicht mehr aus. Deutschland muss jetzt die Nationen Europas führen und gleichzeitig ein globaler Akteur sein, der deutsche und europäische Interessen im Ausland wahrnimmt. Und in einer Zeit des geopolitischen Umbruchs in Europa führend zu sein, bedeutet, die schwere Last der Sicherheit und Verteidigung zu teilen.
Deutschland zieht aus der nuklearen Teilhabe der Nato erheblichen Nutzen. Es hat dadurch eine starke Stimme bei der Gestaltung der Nuklearpolitik des Bündnisses und bei der Stationierung von Atomwaffen in Europa. Sollte Deutschland sich aus der nuklearen Teilhabe zurückziehen, würde seine Stimme erheblich an Gewicht verlieren.
Deutschland muss sich auch klarmachen, welches Signal ein solcher Schritt aussenden würde. Die Bündnispartner sehen ohnehin die Tatsache kritisch, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben noch immer nicht hinreichend erhöht hat. Ein Ausstieg aus einer weiteren Nato-Verpflichtung würde den Eindruck verstärken, dass das Land seine Bündnisverpflichtungen nicht ernst nimmt.
Der aggressive Weg der russischen Politik
Die Deutschen sollten sich bewusst machen, auf welch aggressivem Weg sich die russische Politik befindet. Die Abschreckung durch die Nato - nuklear und nicht-nuklear - muss den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu bringen, über die Kosten und Risiken eines weiteren russischen Abenteurertums nachzudenken, möglicherweise an der Grenze Deutschlands zu Polen oder den baltischen Staaten.
Wenn Deutschland aus der Vereinbarung über die nukleare Teilhabe aussteigt, kämen auf andere Nationen zusätzliche Aufgaben zu. Das würde die Bündnispartner an der Zuverlässigkeit Deutschlands zweifeln lassen, wenn es um ihre Verteidigung geht, insbesondere bei den Nato-Mitgliedern im Osten. Der Einheit des Bündnisses würde ein schwerer Schlag versetzt. Ein Rückzug Deutschlands würde Präsident Putin einen großen Sieg bescheren, ohne dass er auch nur einen Finger rühren müsste.
Seit Deutschland 1955 in die Nato aufgenommen wurde, hat es die Erwartungen des Bündnisses nicht nur erfüllt, sondern übertroffen. Sollte Deutschland nun beschließen, sich aus seiner nuklearen Verantwortung zurückzuziehen, würde es die Wertschätzung seiner Bündnispartner verlieren – vor allem des Bündnispartners, der sich von Anfang an für Deutschland eingesetzt hat und der bereitwillig Risiken eingegangen ist, um Deutschlands Verteidigung zu sichern.
Herr Mützenich sollte sich klarmachen, dass im November die US-Präsidentschaftswahlen stattfinden. Möglicherweise verändert das seine negative Haltung zur Zusammenarbeit mit einer amerikanischen Regierung im Bereich der nuklearen Teilhabe.