Joe Bidens Wahlsieg Amerikas Auftrag

President-elect Joe Biden: Eine historische Wahl
Foto: BRIAN SNYDER / REUTERSDie Nachricht kam kurz vor Mittag Ortszeit: Joe Biden habe die für den Sieg erforderlichen 270 Stimmen im Wahlleutegremium zusammen. Erst verkündete es CNN, dann folgten nach und nach auch die anderen TV-Sender und Nachrichtenagenturen, selbst Trumps Lieblingssender Fox News. Joe Biden, der sich 1988 und 2008 um das höchste Amt im Land beworben hatte, wird der 46. Präsident der Vereinigten Staaten. Donald Trump ist abgewählt.
Für viele kam diese Nachricht einer Erlösung gleich. In Washington waren umgehend die ersten Jubelschreie zu hören. Dann begannen die Hupkonzerte – und sie sollten für eine lange Zeit nicht mehr aufhören.
Nach Tagen des Zitterns, des langsamen Auszählens inmitten der Pandemie, nach den vielen haltlosen – und weiter andauernden – Versuchen des noch amtierenden Präsidenten, Zweifel an der Legitimität der Abstimmung zu säen, war Gewissheit eingekehrt: Die US-Bürger haben sich gegen weitere vier Jahre Donald Trump im Weißen Haus entschieden.
Zum ersten Mal seit 28 Jahren wählten sie damit einen amtierenden Präsidenten ab. Nicht der einzige Grund für das historische Ausmaß dieser Abstimmung:
Die Wahlbeteiligung war die höchste seit 1900.
Biden hat so viele Stimmen geholt wie kein Präsidentschaftskandidat in der Geschichte des Landes.
Kamala Harris, seine designierte Vizepräsidentin, wird die erste Frau und die erste Person of Color in diesem Amt sein.
Stern des Nordens
Biden führt nach Auszählung fast aller Stimmen im Südstaat Georgia und im Wüstenstaat Arizona, die Trump vor vier Jahren gewann. Die Eckpfeiler seines Wahlsiegs aber sind im Norden zu finden: seine Erfolge in Michigan, Wisconsin – und Pennsylvania.
Trump hatte vor vier Jahren diese "blaue", also demokratische, Mauer eingerissen. Kurz vor dem Wahltag hatte der Ex-Vizepräsident vier Termine allein in seinem Geburtsstaat Pennsylvania absolviert. Das schadete ihm sehr wahrscheinlich in Florida, wo er deutlich verlor. Insgesamt aber ging die Strategie auf.
Der Katholik Biden hatte das Unterfangen, Trump aus dem Amt zu bekommen, schon früh zu einem Kampf um die "Seele Amerikas" erklärt. Nun hat er den Auftrag erhalten, das Land in die Zukunft zu führen.
Dabei ist Biden in vielerlei Hinsicht ein Mann aus einer vergangenen Ära. Er blickt auf eine jahrzehntelange Laufbahn im Senat und acht Jahre als Vizepräsident zurück. Die Zeit, in der im Kongress noch über Parteigrenzen hinweg zusammengearbeitet wurde, hat er miterlebt und mitgestaltet.
Sein oberstes Ziel, das haben seine Reden kurz nach der Wahl gezeigt, wird es sein, das Land mit sich selbst zu versöhnen. Es gilt die Tugenden aus der Zeit vor "America First" wiederzubeleben und sie zugleich weiterzuentwickeln. Dies nicht nur symbolisch, sondern auch in Form von Gesetzen zu leisten, wird angesichts der recht enttäuschenden Resultate der Demokraten in den Kongressrennen schwierig.
Biden will sofort in den Präsidentenmodus schalten und das auch nach außen hin kommunizieren. Vor wenigen Tagen ließen er und Harris sich zur Coronakrise briefen – obwohl das Wahlergebnis noch nicht feststand. Es wird erwartet, dass er schnell die ersten designierten Mitglieder seiner Regierung bekannt gibt. Das soll die Botschaft senden: Alles Routine, das wird eine ganz normale Machtübergabe.
Trump ist abgewählt, aber noch zweieinhalb Monate im Amt
Doch genau das ist keineswegs gewiss. Das lange gepflegte Wahlkampfritual, in dem der Verlierer den Sieger anruft und ihm gratuliert, wird es mit Trump wohl ebenso wenig geben wie eine Rede, in der er die Niederlage eingesteht.
Während in Washington, D.C., unweit des Weißen Hauses, die Menschen wie erlöst feierten und Politiker weltweit Biden gratulierten, verschickte das Trump-Lager Mitteilungen: "VERTEIDIGT GEORGIA", hieß es in einer; man verlange einen Auszählungsstopp in Michigan, in einer anderen.
Die Wahl sei mitnichten entschieden, teilte der noch amtierende Präsident mit. Kurz bevor CNN, NBC, BBC, AP und Fox News Biden als Sieger ausriefen, hatte Trump noch eine Reihe halt- und belegloser Tweets über vermeintlichen Wahlbetrug abgesetzt. Dann ging er golfen. In den sozialen Medien kursiert ein Video, wie Trump auf der Anlage für Fotos mit einer Braut posiert.
Seine Juristen sind derweil in mehreren umkämpften Bundesstaaten vor die Gerichte gezogen. Doch das Unterfangen ist wenig aussichtsreich , eine ganze Reihe von Richtern in mehreren Bundesstaaten wies die Anliegen bereits zurück.
Trump ist zwar abgewählt, aber noch für rund zweieinhalb Monate im Amt. Er kann während dieser Zeit noch Sabotageversuche unternehmen. Selbst ein Versuch, den Wählerwillen über das Electoral College zu unterlaufen, scheint nicht ausgeschlossen. Trump braucht dafür Verbündete, die aber zögern.
Seine Auftritte nach der Wahl – die Verschwörungstheorien und Mitteilungen, in denen er sich der Realität verweigert – legen nahe, dass er so lange mit schmutzigen Tricks weiterkämpfen wird, wie er kann.
In einem aber ist die Verfassung eindeutig: Die Amtszeit des Präsidenten endet am Mittag des 20. Januar.