Mathieu von Rohr

US-Wahlsieger Biden Ein Neuanfang für Amerika

Mathieu von Rohr
Der SPIEGEL-Leitartikel von Mathieu von Rohr
Die USA zu einen, wird selbst für einen Versöhner wie Joe Biden schwer. Die Europäer müssen seine Präsidentschaft jetzt nutzen, um selbst stark zu werden.
Biden-Unterstützer in Florida

Biden-Unterstützer in Florida

Foto: Maria Alejandra Cardona / REUTERS

Es besteht kein Zweifel mehr: Der neue Präsident der Vereinigten Staaten heißt Joe Biden. Die Wahl fand unter bisher nie dagewesenen Bedingungen statt – und sie beendet eine äußerst unrühmliche Periode der amerikanischen Geschichte.

In bestürzender Deutlichkeit zeigt sich in diesen Tagen: Es ist höchste Zeit, dass Donald Trump das Weiße Haus verlässt.

Der Präsident hat die amerikanische Demokratie in einem Ausmaß beschädigt wie keiner seiner Vorgänger. Er rief sich vorzeitig zum Sieger aus, sprach ohne jeden Beleg von "Betrug". Dabei waren die Wahl und die Auszählung trotz aller Befürchtungen so geordnet verlaufen, wie man das von einer gefestigten Demokratie wie den USA erwarten würde. Mit propagandistischen Mitteln versucht Trump nun, die Legitimität einer Biden-Präsidentschaft zu zerstören, und hetzt seine Anhänger auf. Ein Vorgeschmack auf seine letzten Monate im Amt. Trump wird alles versuchen, Biden den Einzug ins Weiße Haus so schwer wie möglich zu machen.

DER SPIEGEL 46/2020
Foto: SAMSON; Edel Rodriguez / DER SPIEGEL

Der Haus­be­set­zer / Make America great again

Bidens Sieg und Trumps schmutziger Kampf ums Oval Office

Zur Ausgabe

Wenn Joe Biden im Januar ins Amt eingeführt wird, übernimmt er ein Land, das schwer trauma­tisiert ist von den vier Trump-Jahren und von diesem Wahlkampf. Biden will die USA in eine vortrumpsche Normalität zurückführen. Das wird schwer. Der Trumpismus bleibt Amerika als zerstörerische politische Kraft erhalten. Mehr Menschen haben für Trump gestimmt als bei der Wahl 2016. Er hat die Unterstützung von rund der Hälfte der Amerikaner – obwohl mehr als 234.000 Menschen in der Corona-Pandemie gestorben sind. Dafür ist sein katastrophales Krisenmanagement maßgeblich mitverantwortlich.

Europas Lehren aus Trumps Präsidentschaft

Dieser Präsident hat sein persönliches Bauchgefühl stets über Fakten gestellt – und gerade das fanden seine Wähler gut. Wenn eine Gesellschaft so gespalten ist wie die amerikanische, wird das politische Zugehörigkeits­gefühl zur Droge: Wähler werden zu Fans, die ihrem Team alles durchgehen lassen. Und so werden sich die beiden Lager auch weiterhin erbittert bekämpfen und nur noch Freunde oder Feinde kennen.

Doch das Votum hat nicht nur Konsequenzen für Amerika, sondern auch für Europa. Insbesondere die Deutschen haben sich geradezu obsessiv mit der Trump-Präsidentschaft befasst – auch wir beim SPIEGEL. Das ist Ausdruck der zutiefst emotionalen Beziehung, die viele Deutsche zu jenem Land haben. Die Auseinandersetzung mit Amerika schwankt hierzulande oft zwischen Idealisierung und Verteufelung. Das liegt an der deutschen Geschichte, aber auch daran, dass Amerika oft Anker und Leitstern der westlichen Welt war.

Diesen Führungsanspruch haben die Vereinigten Staaten aufgegeben. Vorbei ist die alte Gewissheit, dass die USA für Deutschland ein Alliierter sind, auf den man sich trotz aller Differenzen in der Not verlassen kann. Deutschland und die übrigen Europäer müssen Bidens Präsidentschaft deshalb nutzen: als Vorbereitungsphase auf eine Welt, in der sie selbst stark sind. Sie müssen lernen, in wichtigen Fragen der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen und in der Verteidigungspolitik gemeinsam schlagkräftig zu sein.

Biden sollte nicht unterschätzt werden

President-elect Joe Biden: Pro-Europäer im Weißen Haus

President-elect Joe Biden: Pro-Europäer im Weißen Haus

Foto: Tasos Katopodis / Getty Images

Sicherlich ist Joe Biden der proeuropäischste Präsident, den die USA derzeit haben können. Doch die trumpschen Kräfte könnten schon in vier Jahren wieder an die Macht kommen. Dieses polarisierte Amerika ist unberechenbar geworden, es wird sich wohl auf längere Zeit nur noch mit sich selbst und mit China beschäftigen.

Den USA ist trotzdem zu wünschen, dass Joe Biden Erfolg hat mit seinem Vorhaben, die Ära des amerikanischen Populismus zu überwinden. Dass er es nicht nur schafft, eine kompetente Regierung anzuführen, sondern auch die Gesellschaft zu kitten und dem Land Ruhe zu schenken. Gelänge ihm dies, käme das fast einem Wunder gleich. Denn Trump war nicht die Ursache, sondern Folge der Polarisierung.

Aber Biden sollte nicht unterschätzt werden. Es wurde in diesem Wahlkampf viel gewitzelt über ihn – dass er zu alt sei und zu langweilig, dass er manchmal Mühe beim Sprechen habe und eine Figur der Vergangenheit sei. Doch er hat durchgehalten und gesiegt. Weil die Mehrheit der amerikanischen Wähler in ihm das passende Gegengift nach vier Jahren Trump gesehen hat. Einmal mehr bewahrheitet sich, dass in Amerika in den vergangenen Jahrzehnten auf fast jeden Präsidenten sein exaktes Gegenteil folgt. Und dass es immer die Chance auf einen Neubeginn gibt.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten