
Leang Longsreang mit seinem Sohn. Seine Frau war Ende 2020 nach der Geburt gestorben
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELMüttersterblichkeit in der Pandemie »Sie sagte den Namen unseres Kindes. Dann sagte sie nichts mehr«

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Sie wollte ihre Augen zumachen, sagt er. Er habe sehen können, dass sie nicht mehr kämpfte, dass ihr Geist schon gewichen war. Nur ein kleines bisschen Leben sei noch dagewesen, in ihrem Körper, in dem Wagen der Emergency Unit, in dem Rettungsauto voll mit ihrem Blut.
Diese Worte wählt Leang Longsreang, ein 43-jähriger Mann aus Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh, wenn er von dem Tag erzählt, an dem sein Sohn geboren wurde und seine Frau starb. Von dem Moment, an dem er das Baby auf dem Arm hielt, das seine Frau wenige Stunden vorher gesund zur Welt gebracht hatte, und er begriff, dass sie selbst es nicht schaffen würde.

Witwer Leang Longsreang zeigt ein Erinnerungsfoto, darauf seine Frau und der ältere Sohn bei einem Ausflug
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELEs war der 24. Dezember 2020. Leang Longsreang bekam an diesem Tag zwei Dokumente ausgestellt, die Geburtsurkunde seines Sohnes, datiert auf halb neun Uhr am Morgen, und den Totenschein seiner Frau, datiert auf circa 15 Uhr am Nachmittag. Seine Frau habe Suppen geliebt, und mit der Familie am Sonntag an den Fluss zu gehen. Sie sei ein fröhlicher gütiger Mensch gewesen, sagt er, und gesund.
Ihr Name war Heng Samphors. Sie war 35 Jahre alt. Sie hatte vorher schon einen Sohn geboren. Da war doch alles gut gegangen, sagt ihr Mann. Da habe sie doch auch nicht so viel Blut verloren. Longsreang glaubt, dass das Krankenhaus etwas falsch gemacht hat, dass es zu schlecht vorbereitet war, um seine Frau zu retten an diesem 24. Dezember, am Ende des ersten Jahres der Pandemie.
In Kambodscha zählte eine Schwangerschaft noch in den Neunzigerjahren zu den Haupttodesursachen für Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren; zu oft kam sie einer Lebensgefahr gleich. Müttersterblichkeit heißt der Begriff, der diese Todesfälle von Frauen im Kontext einer Schwangerschaft oder Geburt beschreibt.
Die Raten sind auf der Welt extrem ungleich verteilt. Im Globalen Süden, vor allem in Subsahara-Afrika und Südostasien, bleiben Infektionskrankheiten, die mit Medikamenten zu behandeln wären, oft unbehandelt. Medizinische Zentren liegen für Schwangere zu weit entfernt, kosten zu viel Geld, sind zu schlecht ausgestattet. Komplikationen bei Geburten werden häufig nicht richtig und schnell genug behandelt.

Links Longsreangs jüngerer Sohn. Der ältere ist inzwischen fünf, sie spielen mit ihren Cousinen
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELIn den vergangenen Jahrzehnten ist die Versorgung aber viel besser geworden, ging laut der Weltgesundheitsorganisation WHO die Todesrate um ein Drittel zurück – weltweit. Frauen bekamen nach und nach einen besseren Zugang zu Ärztinnen und Ärzten, die sie aufklären. Zu Medikamenten, die Infektionen heilen. Zu hygienischen sicheren Umgebungen, um eine Schwangerschaft gegebenenfalls zu beenden, auf Komplikationen zu reagieren. Um ein Kind sicher auf die Welt zu bringen.
Die Coronakrise habe diese positive Entwicklung zurückgedreht, warnt die WHO. Mit dem Fokus auf das Coronavirus traten viele andere Gesundheitskrisen in den Hintergrund, waren und sind Ressourcen gebunden, vor allem dort, wo Gesundheitssysteme schon vorher unterfinanziert und nicht für die breite Gesellschaft zugänglich waren. Das trifft etwa auf die Bekämpfung von Malaria zu und auf viele Impfprogramme abseits von den Covid-Immunisierungen.
Und auf die Müttersterblichkeit: Laut einer Studie der Global Financing Facility , die Teil der Weltbank ist, könnten seit der Pandemie in Kambodscha doppelt so viele Frauen im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft gestorben sein als in den Jahren zuvor. Dort, wo der Vater Leang Longsreang an einem Mittag im März vor seiner Hütte sitzt und einem Kleinkind die Flasche gibt.
»Ich kann nicht geduldig sein. Mit diesem Schmerz«
Seine Frau war am Abend mit leichten Schmerzen ins Bett gegangen, sagt er. Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen seien die Schmerzen dann so stark gewesen, dass seine Frau ihn weckte, sagte: »Ich kann nicht geduldig sein. Mit diesem Schmerz.« Sie fuhren sofort, nahmen das TukTuk. Eigentlich wollte Longsreang seine Frau in ein größeres Krankenhaus bringen, aber das sei zu weit weg gewesen. Sie bogen in eine kleine Klinik ab.
Er wartete vor dem Zimmer, wegen der Pandemie durfte er nicht bei der Geburt dabei sein. Er hörte die Schreie seiner Frau. Um 8.30 Uhr hörte er die Schreie seines Sohnes. Aber niemand kam, um ihn zu informieren. Er wartete vor der Tür. Andere Mütter, die im selben Raum geboren hatten, wurden hinausgebracht, zu ihren Männern. Longsreang wartete weiter, allein, immer angespannter, wusste nicht, was vor sich ging.

Leang Longsreang unterwegs auf den Straßen Phnom Penhs
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGEL
Früher war Longsreang Taxifahrer mit eigenem TukTuk. In der Pandemie musste er es verkaufen, die Kundschaft blieb aus. Nun leiht er sich manchmal eines von einem Bekannten
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELUm kurz vor zehn habe ihn eine Krankenschwester ins Zimmer gebeten.
»Sie erklärten nichts. Sagten nur, dass meine Frau in ein anderes Krankenhaus verlegt werden müsse. Dass man das Blut nicht stillen könne, dass sie so viel Blut verloren habe.«
»Ich sah meine Frau. Sie sah so schwach aus. Anders als bei der ersten Geburt. Sie konnte nicht sprechen, sie hatte die Augen offen, aber war sehr blass.«
»Sie sagte nur den Namen unseres Kindes. Sovann Rithrsak, ein Junge. Dann sagte sie nichts mehr.«

Longsreang zog nach dem Tod seiner Frau zur Familie seiner Schwester
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELUm 10.45 Uhr kommt der Krankenwagen. Der Vater erinnert sich, wie er seinen Sohn nahm, ihn an sich drückte, in den Rettungswagen stieg, die Ärzte anflehte: dass sie seine Frau so schnell wie möglich behandeln, ihr helfen sollen. »Bitte helfen Sie ihr!«
Er erzählt: »Sie sagten zu mir, machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Frau wird okay sein. Aber ich war mir bewusst, dass sie dabei war zu sterben. Sie gaben ihr eine Infusion. Aber da war überall Blut in dem Wagen, sie verlor ihr ganzes Blut.«
Seine Frau wird als Notfall ins größere Krankenhaus eingeliefert. Wieder darf Longsreang nicht dabei sein. Er wartet, zum zweiten Mal innerhalb eines Tages, vor einer Tür mit dem Gefühl, nicht da zu sein, wo er sein sollte: bei seiner Frau, die ihn brauchte so wie noch nie.

Der ältere Sohn fragt jetzt oft: Wo ist Mama?
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELDrei Stunden, den neugeborenen Sohn auf dem Arm. Bevor um drei Uhr am Nachmittag die Gewissheit kommt: Heng Samphors, Mutter von zwei Kindern, ist tot. Der SPIEGEL konnte die Sterbeurkunde einsehen, Bluthochdruck steht darin als Todesursache; beide Krankenhäuser waren für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Fahrt durch die staubigen vollen Straßen Phnom Penhs, raus aus dem Zentrum, Motorroller kreuzen, Männer rollen Wagen mit Mangos, pinkfarbener Drachenfrucht und Wassermelonen über Gehsteige. Kleine Schirme schützen die Straßenverkäuferinnen vor der Sonne.
Nach einer halben Stunde biegt das Taxi in eine schmale Straße ab, von dort geht es zu Fuß weiter, in noch kleinere Gässchen, über Bauschutt und Müll; es ist eine arme Gegend, in der der Witwer Leang Longsreang lebt.

In einer dieser Hütten, am Rande Phnom Penhs, lebt die Familie von Longsreang nun
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELEr ist mit den zwei Kindern bei seiner Schwester eingezogen, in deren einstöckigen Hütte müssen jetzt zwei Familien Platz finden. Drinnen hüpfen Kinder auf einer Matratze herum, draußen sitzt Longsreang im blauen Sportshirt. Der Sohn auf seinem Schoß ist jetzt ein Jahr und drei Monate alt.
»Ich habe alles verloren«
Longsreang sagt: »Ich habe alles verloren. Wir hatten uns gerade ein Haus gekauft, etwas außerhalb der Stadt. Ich musste es wieder verkaufen, kann die Schulden allein nicht abbezahlen.«
Er war früher TukTuk-Fahrer. Als sich das Geschäft in der Coronakrise nicht mehr lohnte, verkaufte er den Wagen, arbeitete als Pfleger in Nachtschichten in einem Krankenhaus. Seit er alleinerziehend ist, kann er den Job nicht mehr machen, hat kaum Einkommen.
Das Geld seiner Frau fehlt. Sie verdiente, sagt er, 1000 US-Dollar pro Monat, ein guter Lohn in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei 100 bis 200 US-Dollar liegt. Sie hatte eine höhere Position in einer der vielen Bekleidungsfabriken der Stadt. Ihr ehemaliger Chef unterstützt die Familie, schickt fünf Packungen Stillmilch pro Monat. Auch eine Lebensversicherung habe Geld gezahlt, 13.000 Dollar. Aber davon hat die Bank fast alles eingezogen, um die Schulden zu tilgen, die der Familie in der Coronakrise entstanden. Geblieben seien 600 Dollar.

Vater Longsreang: »Wir haben viele Schwierigkeiten«
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELLongsreang sagt, er sei seit dem Tod der Frau wie gelähmt. Er sagt: »Wir haben viele Schwierigkeiten.«
Es ist schwer zu sagen, ob Heng Samphors noch leben würde, ohne Pandemie. Erst einmal ist es ein tragischer Einzelfall in einem Land, dessen Gesundheitssystem noch nie wirklich erreichbar war für die, deren Wohnungen aus nicht viel mehr bestehen als ein paar Brettern.
In Kambodscha kamen die heftigen Corona-Infektionswellen erst nach Heng Samphors Tod, im Frühjahr 2021, und mit ihnen die überfüllten Krankenhäuser, massive Restriktionen und Lockdowns. Teilweise waren Wohnviertel über Wochen abgesperrt, Menschen litten Hunger.

April 2021: Phnom Penh im strikten Lockdown
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELAls Heng Samphor in den Wehen lag, waren jedoch bereits viele Hygienemaßnahmen in Kraft, oft etwa kostenpflichtige PCR-Tests vor Arztbesuchen und FFP2-Masken, die sich viele nicht leisten können. Die Angst vor dem Virus konnte auch im Dezember 2020 schon abschrecken, rechtzeitig ein Wartezimmer und eine Ärztin aufzusuchen: Heng Samphor etwa hatte große Angst, sich mit dem Virus zu infizieren und dadurch ihre Schwangerschaft zu gefährden.
Vor allem aber: Bereits im Juni 2020 warnte das kambodschanische Blood Transfusion Center , dass die Blutspenden in der Pandemie knapp würden. Heng Samphor war, nach allem, was zu recherchieren war, nach der Geburt am Verbluten.
»Als ich sie verlor, habe ich viel verloren. Wir brauchen sie so sehr«, sagt Longsreang, der jetzt Witwer mit zwei Kindern ist.
Der kleine Sohn trinkt sein Fläschchen in ein paar Minuten leer. Windet sich aus den Armen des Vaters, tapst los, schleift eine Decke in der Hand mit sich.
Der ältere Sohn ist fünf Jahre alt. Er fragt jetzt viel: Wo ist Mama?
Der Vater antwortet immer gleich: Sie ist bei der Arbeit. Sie muss viel arbeiten.
Der Sohn weint dann. Longsreang weint dann. Weil es ihm so wehtue, dass seine Söhne keine Mutter haben. Weil er, ein Jahr und drei Monate später, noch immer nicht wisse, ob er je den Mut finden wird, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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