
Sonnenaufgang hinter dem Tempel Angkor Wat in Kambodscha: In der Coronakrise kamen zeitweise fast gar keine Besucher mehr
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELUnterwegs in Angkor Wat Soll es wirklich wieder werden wie früher?

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Dem alten Herrn Sarath ist, so ziemlich am Ende seines Berufslebens, zum ersten Mal in den Sinn gekommen, dass es den Tempeln besser stünde, ließe man sie in Ruhe.
Die Tempel, über deren Wandreliefs Sarath spricht als seien es seine, fast als sei er Teil der in Stein gehauenen Geschichten, sind die Tempel von Angkor Wat; in einem Winkel im Nordwesten von Kambodscha gelegen, ungefähr eine Stunde Flug von der Hauptstadt Phnom Penh entfernt, bilden sie eines der größten religiösen Bauwerke der Welt. Mehr als hundert Tempel, mehr als tausend Jahre alt. Manche sagen, etwas Schöneres hätten sie in ihrem Leben nie gesehen.
Hoy Sarath, 61 Jahre, ein nachdenklicher Mann von zarter Statur, hat sich an einem Morgen Ende März zum ersten Mal seit Langem wieder seine blauen Hosen angezogen wie eine Uniform, das beigefarbene Hemd, er hat sich die Visitenkarte um den Hals gehängt, auf der steht, wer er hier immer gewesen ist: Reiseleiter. Sprachkenntnisse: englisch, deutsch.

Reiseführer Hoy Sarath bei seiner ersten Tour seit zwei Jahren
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELEr erzählt von früher, als er jeden Tag das Schauspiel beobachtete, frühmorgens, bei Sonnenaufgang. Wenn sich die Menschenmassen vor der Tempelanlage von Angkor Wat drängten, hinter deren Silhouette sich der Himmel langsam von Schwarz zu Rosa wandelte. Wo die Leute sich mit ihren Handys, dicht an dicht, sehr lange drehten und verbogen, bis sie das fast Unmögliche schafften: ein Selfie zu machen, auf dem nur sie zu sehen sind.
Wie viel an diesem Ort immer los war, sei Sarath erst so richtig aufgefallen, als die große Leere kam. Als das Coronavirus den Tourismus weltweit unmöglich machte. Als, zwischen 2020 und 2022, fast kein Tourist, keine Touristin mehr den Boden von Angkor Wat betrat. So still, sagt Sarath, während er ein paar hohe Stufen zum Tempel nimmt, sei es hier seit Anfang der Neunzigerjahre nicht mehr gewesen, als sich Kambodscha von einem Jahrzehnt Bürgerkrieg und dem Morden der Roten Khmer erholte.

Kambodscha öffnete in der Pandemie als eines der ersten Länder Asiens seine Grenzen wieder – doch die Besucher blieben aus
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Früher wurden in Angkor Wat 10.000 Tickets pro Tag verkauft
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Der Mönch hat die religiöse Anlage nun fast für sich allein
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGEL
Viele Menschen rund um Angkor lebten Jahrzehnte von den Touristen. Für sie ist der Alltag in der Coronakrise ohne Einkommen schwer zu meistern.
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELAngkor Wat war einst das Zentrum des Khmer-Reiches, zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert. Zu seiner Blütezeit sollen in Angkor fast eine Million Menschen gelebt haben. Später wurde das Gebiet verlassen, vom Dschungel überwuchert, dann wiederentdeckt. Mit internationalen Geldern wurden die Tempel restauriert.
Vor der Pandemie zählte Angkor Wat zu den beliebtesten Reisezielen Südostasiens. Dann brachen die Zahlen ein:
2019: 10.000 verkaufte Tickets pro Tag.
März 2022: 100 verkaufte Tickets pro Tag.
Mitte November 2021 öffnete Kambodscha, das Land zwischen Thailand und Vietnam, mit 17 Millionen Einwohnern, 85 Prozent davon doppelt geimpft, seine Grenzen für vollständig immunisierte Reisende wieder. Erste Flugzeuge landeten wieder auf dem kleinen Flughafen von Siem Reap, der dem Tempelkomplex vorgelagerten Stadt.
Doch ähnlich wie an anderen ehemaligen Tourismusattraktionen mussten auch die Menschen rund um Angkor Wat, wo die meisten Familien vom Tourismus abhängen, lernen: Eine offene Grenze allein bringt die Zeit vor Corona nicht zurück. Es dauert, bis die Reisenden wiederkommen. Während der gesamten Hauptsaison, zwischen November 2021 und März 2022, waren die Hotelbuchungen nicht annähernd vergleichbar mit denen der Vergangenheit.
Und während die Hotelbetten, die Straßen und die Kofferbänder am Flughafen leer blieben, sahen sich die Anwohner auch mit dieser Frage konfrontiert: Soll es überhaupt wieder werden wie früher?
Sarath steigt auf sein Moped, leitet unserer Rikscha den Weg zum nächsten Tempel, der ein Stück entfernt liegt. Zu Ta Prohm, dessen Ruinen aus einer Szene im Film »Tomb Raider« mit Angelina Jolie als Lara Croft berühmt wurden. Ein Großteil der Anlage ist zerfallen; um die Steine haben jahrhundertealte Bäume ihre Wurzeln geschlagen, fast wie Kraken Tentakel um ihre Beute.

In der Tempelanlage Ta Prohm
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGEL
Hoy Sarath erklärt die Geschichte zum Tempel Ta Prohm
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGEL
Bäume haben über Jahrhunderte ihre Wurzeln um die Steine wuchern lassen
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELSarath sagt: »Früher musste man hier alle paar Meter anhalten. Warten, bis eine Gruppe weiterzieht. Ich musste schreien, um etwas zu erklären.«
An diesem Vormittag haben wir die Anlage fast für uns. Setzen uns in den Schatten, vor dem berühmten Tempel Bayon, sehen den Affen beim Spielen zu, die sich die grauen Türme zurückerobert haben. Man kann da in Ruhe sitzen, ohne die vorbeiziehenden Horden mit ihren Sonnenhüten, deren Teil man sonst immer gewesen ist, und sich ganz kurz vorstellen, dass das mal ein heiliger Ort gewesen ist.
An einer Ecke bleibt Sarath stehen. Erzählt. Dass er nach dem Krieg, Ende der Achtzigerjahre, von der Uno ein Stipendium bekam, als Ingenieur nach Magdeburg geschickt wurde. Dort lebte er ein paar Jahre, lernte Deutsch. Er ging zurück in die Heimat, wo man aber keine Ingenieure brauchte. Wurde erst arbeitslos, 1998 dann Reiseleiter in Angkor für Gruppen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, gebucht von großen Reiseagenturen. Sein Geschäft sei gut gelaufen, sagt Sarath, es gäbe nicht so viele Guides, die fließend Deutsch sprechen.
Sarath verzichtet seit der Pandemie auf Mahlzeiten – aus Geldnot
Nun, seit die Deutschen nicht mehr kommen, lasse er das Frühstück aus. Mittags und abends einen Teller Reis und ein bisschen Fisch. Er sei dünner geworden. Er habe zwei Jahre fast gar kein Geld verdient. Er wisse, dass viele Kambodschaner illegal über die Grenze nach Thailand gegangen sind, um dort Geld zu verdienen. Die Menschen seien ärmer geworden, und trauriger.
Dann sagt er etwas, das sich über viele Orte des Massentourismus sagen ließe: »Angkor Wat hat sich in der Pandemie erholt. Die Natur, die Tempel. Es ist jetzt so ruhig. Aber viele Menschen hier hat die Krise ins Verderben getrieben.«
Ein paar Kilometer vom archäologischen Park entfernt liegt Siem Reap. Breite Straßen führen vom Flughafen in die Innenstadt, an ihnen reihen sich Hotels auf mit Namen wie »Angkor Elysium Suite« und »Royal Empire Hotel«, und Parkplätze, auf denen einst die großen Reisebusse gestanden haben. Nun brennt dort die Hitze auf nackten Teer.
Ist Corona eine Chance, um den Tourismus neu zu denken?
Weiter drinnen in der Stadt haben viele Restaurants, Bars, Souvenirläden immer noch geschlossen. In der »Pub Street« trifft man abends die paar Dutzend wieder, mit denen man morgens vor den Tempeln stand. Vor einigen Lokalen sitzen ein paar Gäste.
Ein Mann lässt seine Füße in eine Art übergroßes Aquarium hängen, wo Fische ihm die Hornhaut von den Füßen fressen. Drüber steht, auf einem Plakat aus der alten Zeit, »Fish Spa - If our fish cannot make you happy we'll not charge«.
Corona, heißt es jetzt, könnte eine Chance sein, Tourismus neu zu denken. Schonender fürs Klima. Rücksichtsvoller für die, die dort leben, wo andere Urlaub machen.
Doch dann sind da die Zahlen. Die Armutsquote in Kambodscha ist in der Coronakrise um vier Prozent gestiegen. Laut der Weltbank liegt das vor allem an den Wirtschaftszweigen, die dem Land davor große Wachstumsraten beschert hatten: Kleidungsexporte und Tourismus. Reiseleiter Sarath sagt, Siem Reap und die anderen Orte dieser Gegend, sie hätten nur Angkor Wat. Die Leute haben alles auf eine Karte gesetzt, weil sie keine andere haben: die Tempel. Das hat sie verletzlich gemacht in der Krise.

Siem Reap ist die Stadt, in der die Touristen von Angkor übernachten. Es gibt einen Flughafen und eine Ausgehstraße, die Pub Street.
Foto: Martin Bertrand / Majority World/Universal Images Group via Getty Images
Ah Nhev vekrauft auf dem Old Market Souvenirs; mit ihrem Gehalt kommt sie kaum über die Runden
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGEL
Ein TukTuk-Fahrer bringt Touristen abends vom Angkor-Park zurück nach Siem Reap
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELFragt man die Leute in Siem Reap, was sie von dieser Idee eines neuen Tourismus halten, empfinden sie die Frage fast als Hohn. Weniger Besucher, das ginge nur über höhere Preise. Aber was würde aus den Riesenhotels, die schon gebaut sind, die fast den ganzen Ort ausmachen? Was würde aus den Angestellten, von denen man dann auf Dauer nicht mehr so viele bräuchte? Es haben eh schon so viele ihre Jobs verloren.
Auf dem Old Market, wo sonst die Reisenden Sonnentücher, kambodschanischen Pfeffer, Basttaschen kauften, stehen Verkäuferinnen vor vollen Auslagen, aber ohne Kunden.

Tourismus in Siem Reap: Ein Mann lässt seine Füße in eine Art übergroßes Aquarium hängen, wo Fische ihm die Hornhaut von den Füßen fressen
Foto: Thomas Cristofoletti / DER SPIEGELAh Nhev zum Beispiel, 30 Jahre alt, sagt, seit Januar seien wieder mehr Leute gekommen, vor allem aus Frankreich oder Großbritannien; aber die Chinesen, die früher einen Großteil der Reisenden ausmachten und nun noch immer kaum aus ihrem Land können, fehlten. »Wenn ich Glück habe, mache ich einen Umsatz von etwa 100 US-Dollar im Monat«, sagt sie.

Dicht gedrängt erkunden Touristen im Jahr 2018 die historischen Anlagen
Foto: Mahaux Charles / AGF / Universal Images Group / Getty ImagesEin paar Straßen weiter, in einem vegetarischen Restaurant, wo die Smoothie-Bowls verkauft werden, die Touristen sonst immer auf Instagram gepostet haben, sagt eine Kellnerin: »Mein Mann hat jahrelang Nudelsuppe an einem der Tempel verkauft. Seit 2020 verdient er kein Geld mehr. Meine ganze Familie hängt von meinem Job hier ab.«
Selbst Hoy Sarath, der Mann, der die Steine von Angkor kennt wie sonst fast keiner, der Zweifler, der Herumdenker, will die Entwicklung zurück zu zehntausend verkauften Tickets pro Tag nicht aufhalten, selbst wenn er könnte, er sagt: »Ich mag die Ruhe mehr als den Trubel, aber jetzt bin ich ein armer alter Mann. Jetzt brauchen wir die Touristen.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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