Karabach-Konflikt Kampf um Schuscha

Armenische Freiwillige in einem Keller in Schuscha, Bergkarabach
Foto: KAREN MINASYAN / AFPSeit Ende September tobt ein Krieg im Südkaukasus: Aserbaidschan und Armenien kämpfen um die Region Bergkarabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber seit bald drei Jahrzehnten von Armenien kontrolliert wird.
Man kann nicht sagen, dass der Krieg international viel Beachtung gefunden hätte. Aber die Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit ist in diesen Tagen besonders groß: Während die Welt abgelenkt ist mit dem Spektakel der US-Präsidentenwahl und dem Ergebnis, steuert der Krieg in Karabach gerade auf eine Entscheidung zu. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew erklärte am Sonntag die Einnahme der Stadt Schuscha im Herzen der Region. "Schuscha ist unser! Karabach ist unser!", verkündete Alijew bei einem Auftritt in Baku. Der 8. November werde in die Geschichte Aserbaidschans eingehen. Sollte die Nachricht zutreffen, hätte seine Armee den Krieg gewonnen.
Nahe Schuscha habe es in der Nacht "äußerst heftige Gefechte" gegeben, hatte Stunden zuvor die Sprecherin des armenischen Verteidigungsministeriums, Schuschan Stepanjan, gemeldet. Auch in der Stadt selbst werde schon gekämpft, berichtete am Samstagabend der russische Blogger Semjon Pegow , der seit Wochen die armenischen Kämpfer in Bergkarabach begleitet.
Schuscha – oder Armenisch Schuschi – liegt strategisch günstig, hoch über der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert. Durch Schuscha führt außerdem die wichtigste Straße, die Armenien mit Stepanakert verbindet. Zivilisten wie Militärs sind gleichermaßen auf sie angewiesen.
Durch seine Lage hoch in den Bergen war Schuscha vor der aserbaidschanischen Bodenoffensive lange geschützt. Denn beim Versuch, sich in diesem Jahr das Anfang der Neunzigerjahre verloren gegangene Karabach zurückzuholen, rückten Aserbaidschans Truppen zunächst im Süden vor, entlang der Grenze zu Iran. Dort ist es flach, in der Ebene konnte Aserbaidschans Armee ihre Übermacht an Ausrüstung und schwerer Technik besser entfalten.
Aber Ende Oktober gestand der Präsident von Bergkarabach – die von Armeniern bewohnte Region ist eine international nicht anerkannte Republik – in einer Videoansprache, dass die Kämpfe bis auf fünf Kilometer an Schuscha herangerückt waren. Er warnte: Wer die Stadt kontrolliere, kontrolliere Karabach.
Nach ihren Erfolgen im Süden versuchte die aserbaidschanische Armee offenkundig, in die Berge nach Norden vorzudringen. Ziel war zum einen, die wichtige Straßenverbindung zwischen Armenien und Stepanakert nahe der Stadt Lacin zu durchtrennen. Ziel war zum anderen, das ebenfalls an der Straße gelegene Schuscha einzunehmen.
Gesperrte Straße
Anfang November musste die Straße tatsächlich für zivilen Verkehr gesperrt werden. Und der Sprecher der Armee von Bergkarabach sprach diesen Freitag von "intensiven, schweren Kämpfen" bei Schuscha und "Dutzenden, wenn nicht Hunderten" Gefallenen auf der Seite des Gegners. Wobei diese hohen Verlustzahlen nicht zur Sprachregelung auf armenischer Seite passen, wonach man bloß einzelne aserbaidschanische Späh- und Kommandotrupps bekämpfe. Tatsächlich scheint es sich nicht um Kommandotrupps zu handeln, sondern um regelrechte Infanterieangriffe – wegen des bergigen Geländes allerdings fast ohne Unterstützung mit schwerem Gerät.
Aus aserbaidschanischer Sicht hat Schuscha dabei nicht nur eine strategische Bedeutung, sondern auch eine politische. Die Stadt mit ihrer großen Moschee steht symbolisch für das muslimische Erbe der Region. Zu Zarenzeiten wohnten hier gleichermaßen Armenier wie Aserbaidschaner. Aber als Bergkarabach sich mit dem Ende der Sowjetunion in einem blutigen Krieg von Aserbaidschan löste, war Schuscha fast ausschließlich von Aserbaidschanern bewohnt. Die Einwohner wurden vertrieben, viele Wohnungen stehen seither leer oder werden von armenischen Flüchtlingen bewohnt, die ihrerseits aus anderen Teilen Aserbaidschans fliehen mussten.
In Baku löste es deshalb Empörung aus, als die armenische Seite diesen Sommer ausgerechnet in Schuscha die Amtseinführung des neuen Oberhaupts von Bergkarabach feierte. "Schuscha hat einen besonderen Platz im Herzen des aserbaidschanischen Volkes", sagte Mitte Oktober Präsident Ilham Alijew dem türkischen Fernsehkanal A Haber. Ohne die Einnahme Schuschas könne "unsere Sache nicht als vollendet gelten".
"Ich vermute, Aserbaidschan will ein paar entscheidende politische Siege erringen, so wie die Einnahme von Schuscha, und dann zu einem Stellungskrieg wechseln, in dem es die armenischen Truppen weiterhin abnutzen kann", erläutert der US-Militärexperte Michael Kofman. "Wenn es einen Waffenstillstand gibt, könnten sie nächstes Jahr den Rest von Bergkarabach zurückholen, weil Armenien sich nicht von seinen Verlusten erholen kann."
Tatsächlich hat das mit Öl- und Gasexporten reich gewordene Aserbaidschan dem kleineren, ärmeren Nachbarn in diesem Krieg hohe Verluste zugefügt. Mit türkischen Kampfdrohnen hat es vor allem in den ersten Wochen armenische Panzer und Luftabwehrsysteme vernichtet. Überhaupt hat die Türkei Baku unterstützt – auch durch das Herbeischaffen syrischer Söldner, die auf aserbaidschanischer Seite kämpfen.
"Die Lage ist prekär"
Allerdings leisten die armenischen Truppen zähen Widerstand. In den Bergen fällt das Ungleichgewicht in der Technik weniger ins Gewicht, und das Herbstwetter macht den Einsatz der Drohnen schwieriger.
"Es ist überraschend, dass die armenische Verteidigung nicht zusammengebrochen ist, angesichts der bisherigen Verluste. Aber ihre Lage ist prekär", sagt Kofman.
Die aserbaidschanische Großoffensive in Karabach hatte Ende September begonnen, nachdem Friedensgespräche über Jahrzehnte keinen Fortschritt gebracht hatten. Mehrere Versuche von russischer und amerikanischer Seite, einen Waffenstillstand zu vermitteln, scheiterten. Ankara unterstützt dagegen öffentlich das militärische Vorgehen Aserbaidschans. Laut Kreml sprachen am Samstagabend die Präsidenten Putin und Erdogan "ausführlich" am Telefon über die Lage in Bergkarabach.
Das umstrittene Gebiet besteht dabei faktisch aus zwei Territorien: Zum einen dem ehemaligen "Autonomiegebiet Bergkarabach", das es schon zu Sowjetzeiten auf aserbaidschanischem Gebiet gab und in dem vor dem jetzigen Krieg rund 150.000 Menschen lebten. Zusätzlich dazu hat Armenien Anfang der Neunzigerjahre eine weit größere Pufferzone erobert, aus der rund 600.000 Aserbaidschaner vertrieben worden waren. Sie war seitdem kaum bewohnt.