Miriam Mathenge hat die Gräueltaten der Kolonialzeit erlebt, ihr Mann war ein berühmter Widerstandskämpfer

Miriam Mathenge hat die Gräueltaten der Kolonialzeit erlebt, ihr Mann war ein berühmter Widerstandskämpfer

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

Queen Elizabeth II. und die Kolonialzeit in Kenia Die dunkle Seite der Krone

In vielen Ländern Afrikas hält sich die Trauer über den Tod der Queen in Grenzen – stattdessen ist die Debatte über die blutige britische Kolonialherrschaft neu aufgeflammt.
Aus Nyeri, Kenia, berichtet Heiner Hoffmann
Globale Gesellschaft

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Am großen Eisentor haben sie das Vorhängeschloss gleich offengelassen. Zu mühselig wäre es, alle paar Minuten für die Besucher aufzusperren. Dutzende Autos fahren in diesen Tagen die verwachsene Auffahrt hinauf, vorbei an Büffeln und Gazellen. Lokale und internationale Medienvertreter geben sich die Klinke in die Hand am Treetops Hotel im Aberdare National Park vor den Toren Nyeris.

Es ist eine märchenhafte Geschichte, die Redaktionen lieben sie: Hier stieg Elizabeth im Februar 1952 als Prinzessin auf einen Baum  und als Königin wieder hinab. Denn in den Aberdares wurde die damals 25-Jährige zur Queen: Während sie mit ihrem Mann in einem Baumhaus die Tierwelt beobachtete, verstarb im fernen England ihr Vater. Boten überbrachten die traurige Nachricht, die Thronfolgerin war fortan Oberhaupt des britischen Empire.

Das Treetops Hotel im Aberdare National Park, wo die Queen abstieg, ist heute geschlossen

Das Treetops Hotel im Aberdare National Park, wo die Queen abstieg, ist heute geschlossen

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

Das Baumhaus existiert heute nicht mehr, es wurde 1954 niedergebrannt von den Mau-Mau, einer Untergrundarmee im Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft. Für die kenianischen Freiheitskämpfer war dieser Ort vor allem eines: Symbol der Unterdrückung und Gewaltherrschaft. Doch kurz darauf wurde ein neues Hotel erbaut, direkt nebenan, und über die Jahre stetig erweitert.

Das historische Baumhaus wurde niedergebrannt

Reiche weiße Safaritouristen saßen hier über viele Jahrzehnte auf der Terrasse, in edlen Holzwägen wurde von schwarzen Kellnern Tee und Cognac serviert, auch lange, nachdem die Kolonialzeit zu Ende war. An den Wänden hängen Fotos von britischen Jägern mit Schrotflinten und natürlich viele Bilder der Queen. 1982 kam sie noch einmal hierher, das Zimmer von damals konnte man fortan als Queen-Elizabeth-Suite buchen, gegen Aufpreis natürlich.

Inzwischen kann man kein Zimmer mehr im Treetops Hotel mieten, es hat 2021 dichtgemacht, wegen der Coronapandemie blieben die Besucher aus. Und so führt eine Vertreterin des Managements an diesem Wochenende unzählige Journalistinnen und Journalisten durch ein verwaistes Hotel. Sie haben extra zwei Fotos der Queen aufgestellt und daneben Kerzen angezündet, die Geschichte lässt sich gut verkaufen. Vielleicht hilft es ja dabei, das langsam verfallende Haus wieder zum Leben zu erwecken.

Hier hat die Queen 1982 übernachtet: Die Queen-Elizabeth-Suite

Hier hat die Queen 1982 übernachtet: Die Queen-Elizabeth-Suite

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

Diese Hoffnung treibt auch Amos Ndegwa an, in unzähligen Interviews fordert er die Regierung auf, das Hotel zum Kulturerbe zu erklären – Fördergelder inklusive. Der 67-Jährige hat sein bestes Expeditionsoutfit angezogen, dazu den Safarihut, als wäre der Schick der alten Tage nie vergangen. Ndegwa war Chefjäger des Treetops Hotels, er hat die Touristen herumgefahren und mit seiner Flinte in den Busch begleitet. Die Queen hat er nie getroffen, aber immerhin ihren Sohn Prinz Edward. »Ein ausgesprochen netter und freundlicher Herr«, sagt Ndegwa.

Ndegwa wartet erst gar nicht auf eine Frage, er legt direkt los mit den Geschichten, die er schon Dutzende Male erzählt hat: Wie er 1954 geboren worden sei, in jener Nacht, als das alte Baumhaus niederbrannte – auch wenn seine Mutter zunächst ein anderes Geburtsdatum angegeben habe. Wie schon sein Vater für die Queen kochte, als Angestellter im Treetops. »Ich war bestürzt über den Tod der Königin, ich liebe die königliche Familie«, sagt er. Viele Medien drucken es gerne.

Noch-Prinzessin Elizabeth bei ihrer Ankunft in Kenia, 1952

Noch-Prinzessin Elizabeth bei ihrer Ankunft in Kenia, 1952

Foto: United Archives International / IMAGO

Dabei war Ndegwas Mutter, so erzählt er auf Nachfrage, noch eine aktive Unterstützerin der Mau-Mau. Unter einem Baum in der Nähe habe sie nachts Essen und Briefe für die Freiheitskämpfer deponiert, dabei ihr Leben riskiert. Dass ihr Sohn die Königsfamilie durch den afrikanischen Busch führte, sei für sie kein Problem gewesen, versichert Ndegwa: »Sie war stolz darauf, dass ich der erste afrikanische Chefjäger war, der Royals begleiten durfte.«

Später räumt er ein: Er war froh, überhaupt einen Job bekommen zu haben. Denn das Ende des Kolonialismus brachte für viele nicht die erhoffte Gerechtigkeit. Weiße Großgrundbesitzer durften ihr Land behalten, die vertriebenen Einheimischen erhielten es nie zurück. So kommt es, dass viele Menschen in Kenia keine Trauer über den Tod der Queen empfinden, sondern eine alte Wut hochkocht. Vor allem über den Kurznachrichtendienst Twitter rufen unzählige Nutzerinnen und Nutzer dazu auf, lieber der Verbrechen der Kolonialzeit zu gedenken als der Königin. Schließlich wurde Kenia unter ihrer Regentschaft noch elf Jahre lang unterdrückt.

Im Barzimmer haben sie ein Gedenkporträt von der Queen aufgestellt und Kerzen angezündet

Im Barzimmer haben sie ein Gedenkporträt von der Queen aufgestellt und Kerzen angezündet

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

Zehn Fahrminuten vom Treetops entfernt zupft sich Miriam Mathenge an den Haaren. Sie sitzt in ihrer kleinen Holzhütte vor einem offenen Feuer, fast blind flicht sie langsam eine Umhängetasche. Ihre langen Dreadlocks hängen aus dem lose gewickelten Kopftuch heraus, sie reichen ihr weit über die Schultern. Wie viele Mau-Mau hat sie damals einen Eid geschworen: Die Haare werden erst geschnitten, wenn das Land frei ist und die Ziele der Aufständischen erreicht sind. »Aber ich lebe noch immer in prekären Verhältnissen, ich trage die Narben des Kampfes bis heute«, sagt Mathenge. Ihre Haare bleiben lang, sie nimmt sie wohl mit ins Grab.

Die Opfer der Unterdrückung fordern Entschädigung

Mathenge ist etwa 100 Jahre alt, so genau weiß sie es nicht, und die Witwe einer landesweiten Legende. Ihr Mann General Mathenge war einer der Anführer des Freiheitskampfes, er lebte über Jahre versteckt im Wald und koordinierte von dort Attacken auf die verhassten britischen Kolonialherren. Seine Frau Miriam bezahlte für die Treue zu ihrem Mann und dessen Mission einen hohen Preis.

Mathenge fordert von der britischen Regierung eine Entschädigung für die erlittenen Qualen

Mathenge fordert von der britischen Regierung eine Entschädigung für die erlittenen Qualen

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL
Sie ist fast blind und kann kaum noch laufen, trotzdem flicht sie weiter Taschen für den Verkauf

Sie ist fast blind und kann kaum noch laufen, trotzdem flicht sie weiter Taschen für den Verkauf

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

An den Besuch der Queen im Februar 1952 kann sich Mathenge nicht mehr genau erinnern, wohl aber an die Monate danach. Vor allem ab Oktober eskalierte die Gewalt in ihrer Heimatstadt Nyeri, nachdem die Mau-Mau einen lokalen Chief ermordet hatten, der die Aufständischen verraten hatte. Die britischen Truppen reagierten äußerst brutal, wie auch Miriam Mathenge am eigenen Leib zu spüren bekam.

»Sie haben mich übel zusammengeschlagen, ich sollte ihnen die Täter ausliefern, meinen Mann verraten«, erinnert sich die Überlebende. Sie hielt dicht. Doch die Schergen kamen wieder und wieder, folterten sie mit einer Axt. Am Ende sei sie mit ihrem dreijährigen Kind in den Wald geflüchtet, habe sich dort acht Monate lang versteckt. »Wir haben uns nur von Bambusblättern ernährt, es war furchtbar«, sagt Mathenge.

»Sie haben uns die Leichen der getöteten Mau-Mau-Kämpfer gebracht, wir mussten ihre Gräber ausheben, immer sechs in einem Loch.«

Miriam Mathenge, Veteranin des Kampfes gegen die britischen Kolonialherren

Ihre emotionale Beziehung zu Bäumen ist bis heute geblieben. »Wenn jemand in der Nachbarschaft einen Baum fällt, wird meine Großmutter richtig wütend. Sie schreit dann, so laut sie kann«, erzählt ihr Enkel John, der neben ihr sitzt und übersetzt. Denn die Freiheitskämpferin spricht Kikuyu, ihre Muttersprache. Englisch ist die Sprache der Unterdrücker.

Irgendwann flog ihr Versteck auf, sie wurde ins berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis Kamiti gebracht. Über Jahre saß sie dort ein, die Gräueltaten gingen weiter. »Sie haben uns die Leichen der getöteten Mau-Mau-Kämpfer gebracht, wir mussten ihre Gräber ausheben, immer sechs in einem Loch«, erinnert sich die Rentnerin. Die sterblichen Überreste ihres berühmten Mannes hat sie nie gefunden, er bleibt verschollen, offenkundig getötet im Kampf gegen das Kolonialsystem. Inzwischen sind in ganz Kenia Straßen nach ihm benannt.

Das Erbe der Kolonialzeit wird den neuen König begleiten

Miriam Mathenge hat im Radio vom Tod der Queen erfahren. »Ich hege keinen Groll gegen sie, Elizabeth war auch eine Frau und Mutter«, sagt sie. Doch Frieden hat sie bis heute nicht gefunden. »Die Queen ist tot, die britische Regierung gibt es noch. Ich will, dass sie hierherkommen und sehen, wie ich lebe. Ich will, dass sie mich entschädigen«, fordert die Witwe. Im Jahr 2013 verpflichtete sich Großbritannien mehr als 20 Millionen Euro Entschädigung an die Opfer und Hinterbliebenen zu zahlen, doch Mathenge habe nichts bekommen, sagt sie.

Der Tod der Queen hat in Kenia und vielen anderen Ländern Afrikas nun die Debatte über die Kolonialzeit neu entfacht, und Mathenge ist in den sozialen Medien quasi zum Gesicht der Bewegung geworden. Ein Video der Deutschen Welle mit der Freiheitskämpferin hat inzwischen fast 10 Millionen Abrufe auf Twitter, Tendenz schnell steigend.

Porträt der Queen im Treetops Hotel

Porträt der Queen im Treetops Hotel

Foto: Peter Irungu / DER SPIEGEL

Im verwaisten Treetops Hotel sind die nächsten Journalisten angekommen, sie filmen vier weiße Rosen, die englische Soldaten zu Ehren der Queen an eine Gedenktafel gehängt haben. Die britische Armee hat noch immer ein großes Trainingszentrum in der Nähe, viele in Kenia sehen auch das zunehmend kritisch. Der neue König hat die Kolonialzeit, anders als seine Mutter, nur als Kind erlebt – doch das Erbe der Verbrechen wird auch ihn begleiten.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es mit Bezug auf den Queen-Sohn Edward: »Von den Skandalen um den Prinzen hat er noch nichts gehört.« Tatsächlich ist der Queen-Sohn mit den Skandalen Andrew, nicht Edward. Wir haben den Satz gestrichen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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