Kibbuzim Israels Corona-freie Inseln

Kinder im Kibbuz Degania Alef nahe des See Genezareth
Foto: Ronen Zvulun/ REUTERSAls Corona immer näher kam, beschlossen die Bewohner des Ortes Ginegar im Norden Israels, das Virus aufzuhalten. An einem Donnerstag im März stiegen die Bauern in ihre Traktoren und fuhren an die Eingänge von Ginegar. Dort parkten sie mitten auf der Straße, sodass kein Fahrzeug mehr hindurchkonnte. Nur eine Zufahrt blieb offen. Und dort durfte wochenlang kein Fremder hinein.
Die Methode war drastisch, aber erfolgreich. Während Israel einen Anstieg von Corona-Erkrankungen verzeichnet, hat Ginegar bis heute keinen einzigen bekannten Fall. Das liegt auch daran, dass der Ort besonders ist: Ginegar ist ein Kibbuz, also eine landwirtschaftlich geprägte Kommune, die ursprünglich sozialistisch organisiert war.
Bastionen gegen das Virus
Mehr als 250 solche Enklaven gibt es in Israel noch. Lange galten sie als verstaubte, dröge Überreste eines Pioniertraums, der längst ausgeträumt ist. Doch in der Coronakrise erweisen sie sich als Bastionen gegen das Virus.
Während die Covid-19-Fälle überall in Israel steigen, sind viele Kibbuzim noch immer virenfrei. Wie das geht, zeigt sich exemplarisch in Ginegar.
1922 gegründet, war der Ort zuerst eine Ansammlung von Zelten. "17 junge Juden hatten den Boden gekauft und betrieben Landwirtschaft darauf", erzählt Noa Zahavi, deren Großeltern unter den Gründern des Kibbuz waren und die heute wieder dort lebt.
Mit der Zeit wuchs der Ort auf mehrere Hundert Bewohner an, die alles teilten: Einnahmen, Land, Lebensmittel. Ein Konzept, das nicht funktionierte. Um die Jahrtausendwende war der Ort fast pleite und wurde privatisiert. Heute gehört das meiste Land seinen Bewohnern, viele arbeiten nicht mehr in Ginegar, sondern in den angrenzenden Städten.
Doch der Gemeinschaftsgeist lebte in Ginegar weiter - und hat dabei geholfen, den Ort vor dem Coronavirus zu schützen.
"Das Kibbuz war jahrzehntelang autark gewesen", sagt Zahavi, die Enkelin der Gründer, am Telefon. "Als das Coronavirus auftauchte, war unsere erste Reaktion: Wir können uns allein versorgen. Wir haben alles, was wir brauchen. Es war wie ein Reflex."
Jeder hat eine Aufgabe
Noch bevor Israel eine Ausgangssperre verhängte, schloss Ginegar seine Tore. Am einzigen noch offenen Eingang wurde ein Wachposten stationiert, der bei allen Bewohnern, die rein- oder rausfuhren, Fieber maß. "Wir haben uns extrem abgeschottet", sagt Zahavi.
Gleichzeitig arbeiteten Freiwillige daran, die Versorgung im Ort sicherzustellen. Wegen seiner sozialistischen Vergangenheit hat das Kibbuz viele Komitees und Ausschüsse: einen für Soziales, einen für Katastrophenfälle, einen für Kultur. Sie alle engagierten sich, um die Coronakrise für die Bewohner von Ginegar etwas erträglicher zu machen. "Jeder hatte seine Aufgabe, seine Zuständigkeit", sagt Gal Goldner, der so etwas wie der gewählte Bürgermeister von Ginegar ist. Im Alltag betreibt Goldner ein Start-up, in seiner Freizeit kümmert er sich um die Belange des Kibbuz.

Gal Goldner mit seiner Familie
Der Ort legte nicht nur Vorräte an, sondern erstellte auch eine Liste aller Einwohner, die vom Virus besonders betroffen sein könnten. Wer hat Vorerkrankungen? Wer ist alleinerziehend? Diese Menschen bekamen einen Telefonpaten zugewiesen, der sie regelmäßig anrief und Hilfe anbot. "Sie sollten das Gefühl haben: Sie sind nicht allein, es kümmert sich jemand um sie", sagt Goldner.
Noa Zahavi, Einwohnerin des Kibbuz Ginegar
Die Seniorinnen und Senioren im Ort bekamen ihr Essen nach Hause geliefert - niemand musste auf die Straße gehen, um zu überleben. Die Kinder im Ort legten ihnen Zitronen und Blumen vor die Tür, verbunden mit einem Motivationsbrief: "Haltet durch", das war und ist die Botschaft.
Und auch die anderen Kibbuz-Bewohner blieben in den ersten Corona-Wochen im Ort, obwohl viele außerhalb arbeiten. "Wir hatten einen Pakt: Wir sind füreinander verantwortlich", sagt Noa Zahavi, die auch den kommunalen Gemüsegarten betreut. "Wir passen aufeinander auf."
Dass das nötig ist, zeigen auch jene Fälle, in denen das Virus es doch in die Kibbuzim schaffte. In Alumim, einem Ort in der Negev-Wüste, mussten im März mehr als 300 Bewohner in Quarantäne, nachdem ein Besucher positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Wie viele Kibbuzim ergriff der Ort danach strenge Maßnahmen. Heute gibt es dort laut einem Sprecher keinen einzigen bestätigten Corona-Fall.
Die Nähe der Kibbuz-Bewohner zueinander macht sie besonders resilient - aber auch besonders verwundbar. "Ginegar ist fast wie eine große Familie", sagt Ortsvorsteher Goldner. "Das bedeutet auch: Wenn einer das Virus hat, haben es bald alle."
Noch ist das nicht passiert: Obwohl Ginegar seine Straßen inzwischen wieder geöffnet hat, gibt es noch immer keine offiziellen Covid-19-Fälle. Der Nachbarort Migdal HaEmek, kein Kibbuz, sondern eine Stadt, verzeichnet dagegen jeden Tag neue Infektionen.
"Wir tun alles, um das Virus nicht nach Ginegar zu lassen", sagt Noa Zahavi. Auch Gal Goldner erzählt, dass er außerhalb des Ortes eine Maske trage und Abstand halte, um sein Infektionsrisiko zu minimieren. Ganz abriegeln, das sagen beide, könne man den Ort nicht. "Ich fürchte, irgendwann wird es einen Corona-Fall geben", sagt Zahavi. "Und dann trifft es uns alle."