
Borges Danielvis (r.) kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, während ihre Schwester das Geld für alle verdient
Foto:Rogerio Viera / DER SPIEGEL
Kleine Matriarchate Wie Solomütter in Brasilien ihre Kinder gemeinsam mit anderen Frauen großziehen

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Eliane de Borges Brito sieht müde aus, der Kajal um ihre Augen ist verwischt. Es ist Abend in Ananindeua, einer mittelgroßen Stadt im Norden Brasiliens. Ein tropischer Regenschauer hat die Luft abgekühlt, in der Ferne ist noch Donnergrollen zu hören. Borges Brito schließt die Augen, legt ihren Kopf auf die Schultern ihrer Schwester, atmet tief durch. Es war ein langer Tag, gegen fünf am Morgen ist sie aufgestanden, hat ihre erwachsene Tochter zur Busstation gebracht, zu gefährlich ist der Weg allein im Dunkeln. Später stand sie neun Stunden an der Kasse eines Elektrofachmarkts. Als sie nach Hause kam, war es schon wieder dunkel.
Ihre Schwester, Eladyanne de Borges Danielvis, eine Frau mit weichen Gesichtszügen und einem freundlichen Lachen, hat Canjica gemacht, eine Art Maisauflauf. Sie verscheucht ein paar Moskitos, stellt Plastikstühle in einem Kreis auf.
Seit zehn Jahren leben die Schwestern zusammen in dem kleinen, türkisfarbenen Haus im Viertel Paar, einem der ärmsten und gefährlichsten der Region. De Borges Danielvis, 39, kümmert sich um die Kinder und den Haushalt, de Borges Brito, 46, bringt das Geld nach Hause.

Die Solo-Mutter Eliane de Borges Brito kommt nach einem langen Arbeitstag nach Hause
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Die Schwestern Eladyanne de Borges Danielvis und Eliane de Borges Brito wohnen seit zehn Jahren zusammen
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGELDie Schwestern sind zwei unter vielen: Mindestens elf Millionen sogenannte Solo-Mütter gibt es in Brasilien. Zwar gilt auch hier die Familie – bestehend aus Mutter, Vater und Kind – als Norm. Doch die Realität sieht anders aus: Ein Drittel aller Mütter im Land ist alleinerziehend. Ihre Männer sind gestorben, abgehauen oder so problematisch, dass die Frauen nicht mit ihnen zusammenwohnen wollen.
Stattdessen leben viele der Solo-Mütter ein pragmatisches Konzept, das auf Solidarität zwischen Frauen beruht: Sie teilen sich Wohnraum und Arbeit mit ihren Müttern, Schwestern, Tanten oder Freundinnen, ziehen gegenseitig ihre Kinder groß, sie übernehmen Verantwortung füreinander und unterstützen sich finanziell. Was im europäischen Kontext eher futuristisch anmutet, die weibliche Patchwork-Großfamilien-WG, existiert in dem Land seit Langem. »Von Frauen geführte Haushalte haben in Brasilien historische Wurzeln. Weibliche Netzwerke bieten Stabilität«, sagt die Soziologin Clara Wardi, »man darf das Phänomen aber nicht romantisieren.« Vielmehr gehe es ums Überleben.
Ein kleines Mädchen im gelben Kleid schmiegt sich an die Beine von Borges Danielvis, ihre jüngste Tochter Victoria, sieben. In dem Haus leben außerdem noch ihre beiden Söhne Felipe, 18 und Flavio, 17 – und die beiden Töchter ihrer Schwester, Marcia, 25, und Marcela, 17. »Ich habe sie alle großgezogen«, sagt Borges Danielvis. Die Mädchen ihrer Schwester habe sie als Babys gehütet, zur Schule gebracht, sie sei bei ihren Abschlussfesten gewesen und habe mit ihnen über das erste Verliebtsein geredet. Ihre Schwester habe immer den ganzen Tag außer Haus gearbeitet.

Borges Danielvis kümmert sich um den Haushalt und die Kinder
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGELManchmal, sagt sie, sehe sie diesen Schmerz in ihrer älteren Schwester, die eigentlich die ganze Kindheit ihrer Töchter verpasst habe. »Ab und zu ist sie eifersüchtig, aber ich sage ihr dann, dass sie die Mutter der Mädchen ist und unser aller Versorgerin.«
Streiten würden sie eigentlich nie, die Beziehung sei von großem Respekt geprägt. Während sie selbst oft ängstlich sei, sei die Schwester furchtlos und setze sich durch. Sie habe sich von der Reinigungskraft zur Verkäuferin und schließlich zur Kassiererin hochgearbeitet. Borges Brito arbeitet an sechs Tagen pro Woche. Das Haushaltseinkommen der Familie liegt heute bei umgerechnet rund 800 Euro, 114 Euro pro Person und Monat – damit sind sie arm, gelten aber nicht als extrem arm.
»Vor zehn Jahren habe ich beschlossen, die Familie wieder zusammenzuführen«, sagt Borges Brito. Zuvor wohnten sie nicht weit voneinander entfernt zur Miete. Doch dann starb der Ehemann ihrer Schwester an den Folgen eines Angriffs in einer Bar, zugleich wurde ihre inzwischen verstorbene Mutter pflegebedürftig. Borges Brito hatte genug Geld gespart, um das türkisfarbene Haus zu kaufen und alle zu sich zu holen.
Auf Männer ist sie weniger gut zu sprechen. Ihr erster Freund habe getrunken und sie geschlagen, wenn er eifersüchtig war. Sie trennte sich, als sie mit Marcia schwanger war. Der zweite Mann betrog sie. Als ihre jüngere Tochter Marcela ein paar Monate alt war, fand sie heraus, dass er eine weitere Familie hatte.
»Die Männer sind schwierig, sie wollen keine Verantwortung tragen, wollen nicht heiraten, nicht mal Unterhalt zahlen«, sagt ihre Schwester Borges Danielvis. 100 Real monatlich, rund 20 Euro, erhält sie von dem Vater ihrer Jüngsten, mit dem sie nie richtig zusammen war, »aber nur, weil ich gedroht habe, ihn zu verklagen«.
Fehlen den Kindern nicht die männlichen Vorbilder? Borges Danielvis lacht: »Nein, im Gegenteil, es ist gut, dass meine Söhne keine misogynen Vorbilder haben.« So könne sie die Jungs zu einem respektvollen und gleichberechtigten Umgang mit Frauen erziehen.

Borges Danielvis findet nicht, dass ihre Kinder männliche Vorbilder brauchen
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In ihrem Zimmer hat Borges Danielvis Schulurkunden und Fotos ihrer Tochter aufgestellt. Nichts ist ihr wichtiger als eine bessere Zukunft für die Kinder
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGEL»Die Solo-Mütter sind ein Spiegel unser patriarchalen und kolonial geprägten Gesellschaft«, sagt die Soziologin Wardi. 61 Prozent von ihnen seien arm und BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour). »Historisch gesehen war das Risiko für schwarze Frauen immer höher, Witwe oder verlassen zu werden.« Schwarze Männer werden seit jeher häufiger Opfer von Gewalt, oft auch durch die Polizei, oder sterben an Krankheiten, weil ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung schlechter ist.
Zudem, so Wardi, machten der strukturelle Rassismus, die gesellschaftliche Schlechterstellung und Abwertung etwas mit den Männern: »Sie haben weniger Selbstrespekt. Und wer sich nicht um sich selbst kümmert, der kümmert sich auch nicht um andere.« Hinzu kämen kontraproduktive, machistische Männlichkeitsideale.

Ein Müllberg im Viertel Paar, das als eines der ärmsten und gefährlichsten der Region gilt
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGELIn Ananindeua ist es inzwischen Nacht geworden. Die Straßen sind kaum beleuchtet. An einer Hauswand steht: »Das Stehlen ist hier verboten.« Unterschrieben ist der Satz mit den Buchstaben CV, sie stehen für Comando Vermelho, eine der beiden dominierenden Gangs in Brasilien.
Ein Mann, der sich Bozo Cardoso nennt und tagsüber als Wachmann arbeitet, hat in dem Viertel eine kleine NGO aufgebaut, die inzwischen zu CUFA gehört, einer Hilfsorganisation, die sich landesweit um Bewohnerinnen und Bewohner von Favelas kümmert, etwa verschiedene Fortbildungskurse anbietet. Alle zwei Monate verteilt Cardosos Organisation hier an tausend bedürftige Haushalte Gutscheine für eine Flasche Gas zum Kochen. »Ein großer Teil von ihnen sind Solo-Mütter«, sagt Cardoso.
Das ockergelbe Haus von Hilda Teixeira de Carvalho, 84, hat vergitterte Fenster und ist stets abgeschlossen, das kleine Matriarchat im Inneren muss geschützt werden. Die Mutter von sieben Töchtern wohnt hier mit ihrer Jüngsten, einer Enkelin und deren dreijährigem Sohn. Die Familie lebt hauptsächlich von der Rente, die sie erhält; sie hat jahrzehntelang gearbeitet, unter anderem in einer Lebensmittelfabrik.

In diesem Haus beherbergt Hilda Teixeira de Carvalho ihre Tochter, ihre Enkelin und ihren Urenkel
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Hilda Teixeira de Carvalho mit ihren Töchtern und Enkelkindern in ihrem Haus in Ananindeua
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGELIhre Tochter Josinette Teixeira de Carvalho, die nach 18 Jahren ihren Job als Busfahrerin aufgab, einen Abschluss in Sozialer Arbeit machte und nun auf Jobsuche ist, passt derzeit auf das Kind ihrer Nichte auf. Diese wiederum verlässt das Haus um sechs Uhr morgens, um als Assistentin in einer Buchhaltung im Zentrum von Belém, der nächstgelegenen Großstadt, zu arbeiten. Mehr als zwölf Stunden täglich ist sie unterwegs, davon allein vier im Bus. Dafür erhält sie einen Mindestlohn von rund 200 Euro monatlich.
»Ich fing wieder an zu arbeiten, als Benjamin vier Monate alt war, so sieht es das Gesetz vor«, erzählt Danielle Teixeira de Carvalho, 28, als sie abends in einem blauen Kittel nach Hause kommt. »Anfangs war das schlimm, ich vermisste ihn brutal. Auf der Rückfahrt lief mir immer die Milch aus den Brüsten.« Ohne die Hilfe ihrer Tante hätte sie ihren Job aufgeben müssen. Dafür nennt der Kleine die Tante jetzt Mama.

Als ihr Sohn vier Monate alt war, begann Danielle Teixeira de Carvalho wieder zu arbeiten. Ohne ihre Tante hätte sie den Job aufgeben müssen
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Der dreijährige Benjamin nennt seine Tante jetzt Mama
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGELSein Vater arbeitet in einer Bäckerei. Er zahlt rund 80 Euro Unterhalt im Monat. »Wir sind sogar ein Paar, sehen uns an den Wochenenden«, erzählt Danielle Teixeira de Carvalho, »aber die Beziehung ist zu kompliziert, ich wohne lieber hier.«
An der Außenwand des kleinen, gelben Hauses hängen Wahlplakate einer schwarzen Frau namens Leila. Sie kommt aus der Gegend und gehört zur sozialistischen Partei. Sie hat es nicht ins Parlament geschafft. Nun wollen die Frauen, einschließlich Leila Palheta, bei der Stichwahl am 30. Oktober Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT ihre Stimme geben.
Die Arbeiterpartei war es, die vor rund 20 Jahren eine Art Revolution anstieß: Erstmals wurde mit Bolsa Familia ein Sozialhilfeprogramm gestartet, das sich insbesondere an arme Frauen richtete und damit auch Care-Arbeit anerkannte. Lula schuf außerdem Bildungsquoten für marginalisierte Bevölkerungsgruppen und ließ Universitäten in strukturschwachen Gegenden bauen.
Der eher arme Norden und Nordosten wählt traditionell PT. Doch in der ganzen Stadt, auch in diesem Viertel, hängen jetzt viele der gelbgrünen Nationalflaggen, vor allem an den evangelikalen Kirchen. Mit massiven Sozialhilfezahlungen versucht Bolsonaro die Armen – und vor allem auch die finanzschwachen Frauen – doch noch von sich zu überzeugen: Während der Coronapandemie startete er monatliche Hilfszahlungen, die weit höher ausfallen als Bolsa Familia; Alleinerziehende bekommen sogar den doppelten Betrag. Bolsonaro verspricht zusätzlich eine Art Weihnachtsgeld speziell für Frauen.

Motorräder mit der brasilianischen Nationalflagge im Stadtzentrum von Belém, Para
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGEL»Transferzahlungen allein machen noch keine gute Sozialpolitik«, kritisiert die Soziologin Clara Wardi. Arme und vor allem alleinerziehende Frauen bräuchten vielmehr Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder und Zugang zu Bildung. Programme, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen, seien unter Bolsonaro runtergewirtschaftet worden, der Präsident äußere sich sexistisch und frauenfeindlich. Die Empfängnis seiner einzigen Tochter bezeichnete Bolsonaro, der noch vier Söhne hat, einst als »kleinen Moment der Schwäche«. Bei allem Geldregen fehle es Bolsonaro an Glaubwürdigkeit.
»Die vielen Flaggen machen mir Angst«, sagt Borges Danielvis, die Solo-Mutter aus Ananindeua. An ihrer Zimmertür ein Aufkleber mit der Aufschrift: Fora Bolsonaro, weg mit Bolsonaro. »Ich hoffe, dass er nicht zu viele umstimmen kann«, sagt sie.
Denn unter Bolsonaro wurde ihr das genommen, was Borges Danielvis und ihrer Schwester am wichtigsten ist: eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Fast zwei Jahre lang war die örtliche Schule geschlossen, der Unterricht bestand darin, dass ein paar PDFs und Videos per WhatsApp verschickt wurden – obwohl viele der Schülerinnen und Schüler keinen Zugang zu Mobilgeräten oder schnellem Internet haben.

Während der Pandemie war Flaviós Schule fast zwei Jahre lang geschlossen. Unterricht fand nur per WhatsApp statt
Foto: Rogerio Viera / DER SPIEGEL»Ich habe absolut nichts gelernt in den letzten Jahren«, sagt ihr Sohn Flávio, der im zweiten Highschool-Jahr festhängt. »Ich wollte immer Ingenieur werden, aber das kann ich jetzt vergessen.« Denn nun ist die Schule schon wieder geschlossen, es sollen Renovierungsarbeiten stattfinden, das Ganze ist auf sechs Monate angesetzt. In der Zwischenzeit: Unterricht per WhatsApp. Die Pandemie hat dafür den Präzedenzfall geschaffen.
»Meine Tochter Marcela hängt nur noch in ihrem Zimmer ab und schaut Serien«, erzählt Borges Brito, »sie ist depressiv, denkt sie kann nichts, traut sich nichts mehr zu.«
In Lula, sagen die Schwestern, setzten sie große Hoffnungen. Und falls er nicht gewinnt?
»Dann bleiben nur wir«, sagt Borges Sanielvis, »und unser Instinkt uns gegenseitig zu beschützen.«
Mitarbeit: Letícia Bilard
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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