Frauenrechte Was Verhütung mit der Klimakrise zu tun hat

Im Senegal verschluckt das Meer ganze Fischerdörfer, die Menschen müssen sich an Extremwetter anpassen – das wirkt sich auch auf die Familienplanung aus
Foto: NIC BOTHMA / EPA
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Der Meeresspiegel steigt, die Küsten zerfallen, ganze Siedlungen werden im Senegal vom Meer geschluckt und so werden Familien obdachlos. Wenn Dürre herrscht, müssen Frauen weiter laufen, um Trinkwasser zu finden – wenn die Ernten ausfallen, wissen sie nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Bewohnerinnen und Bewohner der Sahelzone und ihre Familien spüren den Klimawandel jetzt schon in ihrem Alltag. Dürreperioden wechseln sich mit Überschwemmungen ab, der Klimawandel verschärft Hunger und Armut, wirkt als Brandbeschleuniger für Konflikte – beeinflusst aber auch die Familienplanung.
»Meine Teams hören von vielen Frauen, die in diesen Gebieten leben, dass eine Schwangerschaft während einer Krise das Letzte ist, was sie wollen«, sagt Sanou Gning. Sie arbeitet im Senegal als Direktorin Sahel für die Nichtregierungsorganisation MSI Reproductive Choices – die Organisation setzt sich weltweit für sexuelle und reproduktive Rechte ein. »Wenn man den Frauen die Möglichkeit gibt, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, hilft ihnen das, wieder auf die Beine zu kommen und ihre Familien besser zu unterstützen«, glaubt Gning.

Frauen sollen selbst wählen können, ob, wann und wie viele Kinder sie möchten
Foto: Jerome Gilles / NurPhoto / Getty ImagesBisher spielen sexuelle und reproduktive Rechte in Klimadebatten eher eine Nebenrolle. Im Vorfeld der Weltklimakonferenz COP26, die im November in Glasgow stattfindet, haben 66 internationale Organisationen den britischen COP26-Präsidenten Alok Sharma und die britische Regierung dazu aufgefordert, Mädchen und Frauen den Zugang zu Familienplanungsdiensten sowie Bildung zu erleichtern – und bestehende Klima-Finanztöpfe auch für Projekte zu reproduktiver Gesundheit zu öffnen.
»Wir fordern lediglich eine Änderung der Förderkriterien und des Schwerpunkts bestehender Fördermechanismen«, heißt es in dem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt. Diese Änderung könne rechtzeitig zum Klimagipfel umgesetzt werden.
Auf der letzten Weltklimakonferenz COP25 in Madrid 2019 hatten sich die Länder darauf geeinigt, geschlechtsspezifische Ansätze für Klimaschutzmaßnahmen in den kommenden fünf Jahren stärker voranzutreiben, und das erweiterte Lima-Arbeitsprogramm zu Gender (LWPG) und den Gender Action Plan (GAP) verabschiedet. Expertinnen und Aktivistinnen sehen trotz einiger Fortschritte noch viel Handlungsbedarf, damit eine gerechtere Klimapolitik tatsächlich umgesetzt werden kann.
»Die Regierungen haben sich verpflichtet, die Klimafinanzierung stärker geschlechtsspezifisch auszurichten, aber es gab bisher kaum koordinierte sektorenübergreifende Maßnahmen oder Partnerschaften, um sicherzustellen, dass der Gesundheits- und der Klimasektor zusammenarbeiten«, kritisiert auch Sanou Gning von MSI Reproductive Choices. »Wenn die Regierungen die Klimakrise wirklich in den Griff bekommen wollen, müssen sie in die sexuelle und reproduktive Gesundheitsfürsorge als Teil ihrer Lösung investieren – und sicherstellen, dass die Stimmen der Frauen im Mittelpunkt der Debatten stehen.«

Warten auf Wasser: Auch Mädchen und Frauen in Guatemala sind von extremen Wetterschwankungen betroffen
Foto: Moises Castillo / APDer sudanesischen Klimaexpertin Balgis Osman-Elasha zufolge würde der Klimawandel Frauen vor allem deswegen oft unverhältnismäßig stark treffen, »weil sie die Mehrheit der Armen in der Welt stellen und proportional stärker von bedrohten natürlichen Ressourcen abhängig sind«. Zudem hätten sie weniger Zugang zu Ressourcen wie Land, Krediten, landwirtschaftlichen Betriebsmitteln, Entscheidungsstrukturen, Technologie, Ausbildung und Beratungsdiensten, die es ihnen ermöglichen könnten, sich besser an den Klimawandel anzupassen.
Mit ihrem niedrigeren Einkommen und schlechteren Zugang zu Lebensmitteln und anderen Ressourcen würden sie länger und stärker unter Krisen leiden, warnt auch die Uno. Millionen Frauen arbeiten ohne jegliche Absicherung im informellen Sektor und schultern zudem den Großteil der unbezahlten Pflegearbeit – von der Kindererziehung bis zur Altenpflege.
Naturkatastrophen töten Studien zufolge meist mehr Frauen als Männer – wie bei Fluten und Tsunamis in Indien, Bangladesch oder Indonesien . Häuser, in denen Frauen mit Kindern und anderen Familienmitgliedern ausharren, können etwa bei Überschwemmungen zur tödlichen Falle werden. In manchen Regionen ist es unüblich, dass Frauen Schwimmen lernen – auch Schwangerschaften oder traditionelle Kleidung können sie daran hindern, schnell genug zu fliehen. Teils haben Frauen auch einen schlechteren Zugang zu Informationen wie Wetterdiensten oder Warnungen, sodass sie eher von Katastrophen überrascht werden. In Ghana haben Kleinbäuerinnen etwa häufiger als Männer kein eigenes Handy, sondern sind mitunter auf das Mobiltelefon ihres Mannes angewiesen.
Doch auch in westlichen Metropolen offenbaren Naturkatastrophen soziale Ungleichheiten: Als Hurrikan Katrina 2005 die US-Metropole New Orleans traf, litten dort besonders schwarze, ärmere Frauen und deren Kinder unter den Fluten – Bewohnerinnen von Sozialwohnungen hatten kaum Möglichkeiten, sich in Sicherheit zu bringen. »Nur wenige hatten ein Auto, konnten sich aber unter normalen Umständen zu Fuß oder mit dem Bus fortbewegen«, heißt es in einer Studie des US-Thinktanks International Women’s Policy Research (IWPR). »Doch als die Stadt nach dem Bruch der Deiche überflutet wurde, strandeten Frauen, die aus ihren Häusern fliehen konnten, irgendwo in der Stadt – es sei denn, sie fanden jemanden mit einem unbeschädigten Fahrzeug, der ihnen half.«
Im Chaos nach den Fluten in New Orleans nahmen Vergewaltigungen zu – auch in anderen Ländern weltweit sind weibliche Klimaflüchtlinge, die auf der Straße oder in Camps leben , ungeschützt. Initiativen weltweit fordern deswegen, reproduktive Rechte und Zugang zu Verhütung auch bei der Katastrophenhilfe zu bedenken. »Vertriebenen Frauen und Mädchen fehlt der Zugang zu Gesundheitsdiensten und sie sind der Gefahr sexueller Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt, also Situationen, die ihr Risiko erhöhen, gegen ihren Willen schwanger zu werden«, warnt auch Sanou Gning.

Verhütung ist ein Element, das Frauen mehr Kontrolle über ihre Zukunft gibt – auch in Klimakrisen
Foto: Enrique Lopez Tapia / Nature Picture Library / IMAGODie Teams von MSI Reproductive Choices unterstützen Frauen per Telefon, in Gesundheitszentren oder in mobilen Kliniken mit kostenloser Beratung und Zugang zu Gesundheitsversorgung und Verhütungsmitteln – teils reisen die Beraterinnen dafür auch in entlegene Orte.
Die Organisation hat zudem ein Netzwerk sogenannter MSI-Ladies ausgebildet, Hebammen und Krankenschwestern, die in lokalen Communitys leben, Frauen vor Ort zu Hause besuchen und ihnen diskret Verhütungsmethoden anbieten. »Da sie in ihren Gemeinden Vertrauen genießen, können sie dazu beitragen, junge und unverheiratete Frauen und Mädchen zu erreichen, die sich vielleicht nicht trauen, eine traditionelle Klinik aufzusuchen«, erzählt Sanou Gning. In mehr als 15 Ländern weltweit sind rund 700 »MSI Ladies« im Einsatz.
In der Sahelzone sei Gning zufolge vor allem die Nutzung moderner Langzeit-Verhütungsmittel noch nicht weitverbreitet – traditionelle Vorstellungen, mangelndes Wissen über Verhütung oder fehlender Zugang hindern viele noch daran, sie zu nutzen. Ihre Teams würden Gning zufolge eine möglichst breite Palette von Verhütungsmethoden anbieten, damit jede Frau die Methode wählen könne, die am besten zu ihrer jeweiligen Situation und ihren Zukunftsplänen passe.
Kürzlich habe sie etwa mit einer Frau gesprochen, deren Haus in dem Küstenort Saint-Louis in Senegal vom Meer weggespült worden war. Die Frau musste in ein improvisiertes Camp umziehen – und ließ sich ein Verhütungsimplantat von MSI einsetzen. »So kann sie selbst entscheiden, ob und wann sie weitere Kinder haben möchte«, sagt Gning. »In einer Zeit, in der ihre Familie von Obdachlosigkeit bedroht ist, kann sie so ihr Leben wieder in den Griff bekommen.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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