Ex-Farc-Guerillas in Kolumbien als Avocadobauer Unsere friedliche Farm

Ein Ex-Farc-Kämpfer läuft mit seinem Baby durch das Camp ehemaliger Guerillas
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGEL
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Ein Mann mit verschränkten Armen, Kriegsname »Nider«, sitzt auf einem Plastikstuhl in den Bergen Kolumbiens und überlegt, ob er komplett auf ökologische Landwirtschaft umstellen soll. »Die Europäer wollen ja jetzt alles öko«, sagt er und zeigt auf den gegenüberliegenden Hügel, wo sich die Avocadofelder befinden. Derzeit lasse er einige Früchte im Rahmen eines Pilotprojekts mit selbst hergestelltem Forellenkot düngen. »Wenn es gut läuft, gehen wir hundert Prozent auf Bio.«
»Nider«, der mit bürgerlichem Namen Jhan Carlos Moreno heißt, war die meiste Zeit seines Lebens Guerillakämpfer im kolumbianischen Dschungel. Nun ist er Direktor einer landwirtschaftlichen Kommune, bestehend aus 437 Ex-Kämpfern. Hinter ihm liegen ein Kräutergarten und ein Gemüsefeld, ein paar Hühner scharren im Boden. Ein großer Schäferhund schleicht um seine Beine.

Farmdirektor Jhan Carlos Moreno
Foto: Nadège Mazars / DER SPIEGELEin paar Baracken stehen mitten in der Landschaft, die Wände mit Vögeln bemalt und mit Kämpfern in Tarnanzügen. Das Camp ehemaliger Guerillas der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) ist ein unwirklicher Ort, an den man gelangt, wenn man einer Serpentinenstraße durch die Berge des Cauca folgt, über Schotterpisten, durch Bambuswälder und Dörfer mit Lehmhäusern, bis hinauf auf eine Anhöhe, wo der Weg endet.
Als die Farc 2016 Frieden mit der Regierung schlossen, gründeten mehrere Hundert ehemalige Rebellinnen und Rebellen hier eine Kommune und nannten sie »Nuevo Mundo«, neue Welt.
Doch fünf Jahre nach dem Vertrag von Havanna ist der Frieden in Kolumbien an vielen Orten kaum mehr als eine schöne Idee aus der Vergangenheit. In den Camps ehemaliger Rebellen trifft man auf desillusionierte Menschen, alleingelassen, ausgeliefert. »Der Staat hält sich nicht an die Auflagen des Friedensvertrags«, sagt Leonardo González von der NGO Indepaz in Bogotá. »Die Ex-Guerillas werden nicht ausreichend geschützt.«

Graffiti mit dem Gesicht von Che Guevara an einer Hauswand in Caldono, Cauca, einer Provinz im Südwesten Kolumbiens
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGELSchon der Weg zur Avocadofarm führt durch Feindesland. »Farc« steht auf Häuserwände und Straßenschilder geschmiert und der Name »Dagoberto Ramos«. Ramos ist Anführer einer Gruppe von Farc-Dissidenten, die den Kampf wieder aufgenommen haben und sich nun selbst Farc nennen. Mit Graffitis markieren sie ihr Territorium. Keine Polizei, kein Militär, der Staat ist in den ländlichen Regionen weitgehend abwesend. Das Machtvakuum haben andere gefüllt: bewaffnete Gangs von Ex-Guerillas, die ihr Geld mit Drogenhandel verdienen und paramilitärische Gruppen wie die Aguilas Negras, die Schwarzen Adler. Sie machen Jagd auf jene, die Frieden geschlossen haben.
Ex-Kämpfer, die nun versuchten, ein ziviles Leben zu führen, würden bedroht, von der Gesellschaft ausgeschlossen und hätten es schwer, Geld zu verdienen, sagt González. »Die meisten Projekte funktionieren nicht.« Deswegen würden sich viele nach und nach wieder dem bewaffneten Kampf anschließen.
»Wir haben kaum Verluste«, sagt hingegen Moreno. Einige Familien hätten sich der Kommune sogar noch angeschlossen. Warum ist dieses Projekt so viel erfolgreicher als andere?

Die Ex-Kämpferin Libia Stella Nene ist verantwortlich für die Avocadopflanzen
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGEL»Strategie und Standort«, sagt Moreno. 2016 hätten sie eine Marktanalyse in Auftrag gegeben, erklärt er und krault den Schäferhund, »die Avocado hatte Wachstumspotenzial für die nächsten drei Jahrzehnte und mit jedem Jahr steigende Exportchancen«. Der 30-Jahres-Plan der marxistischen Ex-Guerillas umfasst außerdem 2000 Schweine sowie eine Fischzucht und eine Ökostromanlage. Für deren Bau sucht Moreno gerade einen Ingenieur. Außerdem will er einen externen Marketingdirektor einstellen sowie fünf Psychologinnen, »um das Wohlbefinden unserer Leute zu steigern«.
Ein Mann im Muskelshirt läuft vorbei. Er war früher ein berühmter Kommandeur. Ihm fehlen eine Hand und ein Auge, seit unter ihm eine Landmine explodierte. In Schulter und Oberarm stecken Schrauben und eine Metallplatte, um eine Schussverletzung zu kurieren. Er nickt freundlich.

Ex-Kommandeur Julio Eduardo Gutierrez verlor ein Auge und eine Hand, als unter ihm eine Landmine explodierte
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGELMit dem Friedensschluss erhielt jeder Kämpfer, der die Waffen niederlegte, vom Staat bis zu acht Millionen Pesos, um die 2000 Euro. Die Gründerinnen und Gründer der Kommune zahlten das Geld in eine Gemeinschaftskasse ein, um sich zukünftig als Avocadobauern zu verdingen. Die Früchte sollen auf den Weltmarkt, nach Frankreich und Deutschland.
»Das hier hat mit Kapitalismus nichts zu tun«, versichert Moreno, »wir überführen die militärische Struktur in eine Unternehmenskultur.« Ganz so einfach sei das jedoch nicht. Seine Leute seien es gewohnt, Befehle auszuführen. Doch nun komme es darauf an, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Jhan Carlos Moreno zeigt ein Foto von seinem Sohn, der bei den Großeltern aufwächst
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGELIn Morenos transparenter Handyhülle stecken ausgedruckte Familienfotos, darauf ist er mit seiner Frau und seinem Sohn zu sehen. Sein Sohn, sechs Jahre alt, wächst bei den Großeltern auf, so war es früher bei der Guerilla üblich. Sie telefonieren viel und sehen sich einmal im Jahr zu seinem Geburtstag. »Wir haben Hunderte Kinder«, sagt Moreno.
Viele der Ex-Kämpfer schlafen nicht im Camp, sondern bei ihren Familien in den nahe gelegenen Dörfern, nähern sich einem normalen Leben an. »Wir versuchen, hier glücklich zu werden«, sagt Moreno.
Doch seit dem Friedensschluss begann kein Jahr so blutig wie 2021.

Die Avocados der Kommune sollen nach Europa exportiert werden
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGEL»Zu viele versuchen, den Friedensprozess zu zerstören«, sagt Moreno, »sie haben Angst vor der Wahrheit.« Diese dringe nach 50 Jahren Bürgerkrieg nun langsam an die Oberfläche. Als Farc bäten sie die Menschen um Vergebung für das Leid, das sie verursacht hätten. Dreimal die Woche treffen sich Ex-Guerillas mit Menschen aus den Dörfern in der Stadthalle von Caldono zu einer Art Therapiesitzung. Sie zünden Kerzen an. Die Kämpfer erzählen aus ihrem Leben und entschuldigen sich bei Müttern, die ihre Söhne verloren haben. Manchmal umarmen sie sich.
»Aber wir wissen auch, was wir nicht getan haben«, sagt Moreno. Ein Großteil der Morde an Zivilisten etwa geht auf das Konto paramilitärischer Gruppen, sagen die Vereinten Nationen. Auch das Militär beging Menschenrechtsverbrechen. Viele sind noch ungeklärt.
»Sie bringen alle um, die zur Aufklärung beitragen können«, glaubt Moreno. Insgesamt sind in den vergangenen fünf Jahren 261 ehemalige Farc-Kämpfer in Kolumbien ermordet worden. Menschenrechtler beklagen Straffreiheit für die Täter; die rechte Regierung von Iván Duque weist das zurück.
Schon mehrfach hat es Morenos Leute getroffen. Im November des vergangenen Jahres lockten Mörder einen seiner Kameraden in einen Hinterhalt: Er verdiente nebenher etwas Geld für seine Familie, indem er mit seinem Motorrad Essen auslieferte. Seine Mörder gaben eine falsche Bestellung auf und durchlöcherten ihn mit Schüssen aus Maschinengewehren.
Moreno deutet auf die bewaldeten Berge. »Sie sind irgendwo dort oben. Und sie versuchen ständig, uns abzuwerben.« Zwischen rund 500 und 2500 Euro böten die bewaffneten Gruppen monatlich, je nachdem, wie hoch man einst in der Hierarchie der Farc stand. Wenn man ablehne, werde die Familie bedroht. »Wer sind die?«, fragt er. Die Guerilla habe nie Löhne bezahlt, es sei um eine Idee gegangen.
»Sie werden nicht aufhören, uns Angebote zu machen. Die wissen, dass wir die besten Kämpfer haben.«
Moreno führt in seine Wohnküche. Seine Frau Alba Valencia, 39, mehr als 20 Jahre lang bei der Farc, bereitet gerade Kaffee zu. Sie trafen sich damals im Dschungel und sind seither ein Paar.
Die Wände sind mit Landkarten zugepflastert. Moreno zeigt, wo in der Gegend sich seine Felder und Ställe befinden – und wo nicht. »Hier kann ich nicht hin, hier ist alles voller Koksfelder.« Er deutet auf eine rot umkreiste Region, »dort geht es auch nicht, da wird eine Zugstrecke gebaut, da wissen wir jetzt schon, dass es Gewalt geben wird; hier geht es auch nicht, hier lassen multinationale Unternehmen Palmöl anbauen, man würde die Paramilitärs schicken und uns vertreiben«.
An einer Stelle steckt eine Nadel mit rotem Kopf in der Karte. Den Ort für die Kommune habe man sich damals aussuchen können, sagt Moreno. Es sei eine strategisch geniale Stelle: auf einem übersichtlichen Hügel, nur sechs Stunden von einem der größten Häfen Kolumbiens in Buenaventura entfernt und in einer Schutzzone, in der die Indigenen stark sind.

Eine indigene Frau in der Nähe der Farm bei Caldono
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGELDie indigene Gemeinde der Nasa kontrolliert die Gegend um das Städtchen Caldono. Sie dulden weder kommerziellen Koksanbau noch Waffen auf ihrem Territorium. Mit der Guardia Indigena haben sie eine Art eigene Polizei, wenn auch unbewaffnet, die versucht, die kriminellen Gruppen möglichst fernzuhalten.
Die Ex-Guerillas der Kommune haben zu 95 Prozent selbst indigene Wurzeln, stammen aus der Gemeinde der Nasa. »Die Indigenen haben sich dafür entschieden, die Kämpfer wiederaufzunehmen«, sagt Carolina Buitrago, 24, eine Psychologin aus Bogotá mit strenger Brille und perfektem Make-up, die plötzlich auch in dieser Wohnküche steht. Buitrago arbeitet als Freiwillige für die staatliche Agentur, die sich um die Ex-Kämpfer in sogenannten »Wiedereingliederungszonen« kümmert. »Das hier ist das Juwel des Reintegrationsprozesses«, sagt sie, »und die Indigenen sind der Schlüssel.«
Die Kommune untersteht den örtlichen Anführern der Nasa. Sie kommen mit ihren traditionellen Holzstöcken und gewebten Taschen den Hügel hinaufgelaufen zu einem Treffen mit Moreno und Buitrago, deren Job es ist, »das soziale Gewebe zwischen Ex-Kämpfern und Indigenen zu stärken«.

Die Ex-Kämpferinnen Katherine Rodriguez und Alba Valencia chatten auf ihren Mobiltelefonen. Valencia sieht ihren sechsjährigen Sohn nur einmal im Jahr zu seinem Geburtstag
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGELEin kleines, indigenes Mädchen sitzt am Küchentisch und isst einen Salzkräcker. »Um die Kinder hier kümmern sich alle gemeinsam«, sagt Buitrago. Etwa 20 leben im Camp, die jüngsten sind noch Babys. Viele der ehemaligen Kämpferinnen, deren Kinder zu Kriegszeiten geboren wurden, mussten ihre Töchter und Söhne zu Großeltern oder Nachbarn geben, um sie zu schützen.
Jetzt können sie immer noch nicht bei ihnen sein. Sie fürchten weiter um ihre Sicherheit. »Die Frauen leiden sehr«, sagt Buitrago, »aber durch die Kommunenkinder können sie ihren Mutterinstinkt auch ausleben.«

Miller Fernandez: »Im Dschungel war man immer angespannt. Jetzt entspanne ich, und dann kommen die Bilder«
Foto: Nadège Mazars / DER SPIEGELEin paar Kilometer weiter, unten im Tal, öffnet Miller Fernandez, 34, unter lautem Quieken und Grunzen der Tiere das Tor zum Schweinestall der Kommune. Die Böden und Tiere sind sauber, die Seitenwände offen, der Blick fällt auf Bananenpalmen und bewaldete Hügel. Die Schweine sind nach Alter in Boxen eingeteilt, links die älteren und rechts die ganz jungen.
»Vorher war es unsere Aufgabe zu kämpfen, jetzt ist es unsere Aufgabe zu produzieren«, sagt Fernandez. Er war 13 Jahre alt, als er zur Farc kam. Im Vergleich zu damals, sagt er, sei »das hier keine Arbeit«. Über die Schweine habe er viel gelernt und sei erstaunt, wie sehr man auf sie achtgeben müsse. Er möge die Tiere, sie seien »sensible Wesen«. Sie täten ihm leid, weil sie getötet werden. »Ich versuche, ihr Leben so angenehm wie möglich zu machen«, sagt er. Jeden Tag wasche er sie alle mit einem Schlauch ab.
Manchmal, in den ruhigen Momenten, drängen sich die Erinnerungen aus dem Krieg in Fernandez Gedanken. »Im Dschungel war man immer angespannt. Jetzt entspanne ich, und dann kommen die Bilder«, erzählt er. Seine Familie helfe ihm, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Außerdem sei er stolz auf seine Arbeit, darauf, das Leben der Gruppe zu verbessern.

Libia Stella Nene und ihr Freund Luis Eduardo Caso in ihrem Schlafzimmer, hinter ihnen an der Wand Fotos aus ihrer Zeit als Farc-Kämpfer im Dschungel
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGEL»Wir haben keine psychologischen Probleme«, sagt Moreno, der Direktor der Kommune.
»Viele leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, aber kulturell zeigen sie es nicht«, sagt die Psychologin Buitrago.
Dann, Ende März, schickte die Gruppe von Dagoberto Ramos einen Brief an die Gemeinde von Caldono: »Wir erklären den Bürgermeister, die indigene Polizei sowie alle Anführer der örtlichen Nachbarschaftshilfe zu militärischen Zielen. Ihr habt 42 Stunden Zeit, um das Territorium zu verlassen, sonst müssen wir zu den Waffen greifen. Mit einem Gruß aus den Bergen.«

Cuba Atazú, 49, hat praktisch ihr gesamtes Leben bei der Farc verbracht. Sie hat vier Söhne
Foto: Federico Rios Escobar / DER SPIEGEL»Todo tranquilo«, sagt Moreno. Alles sei in Ordnung. Bald stehe die erste Avocado-Ernte an. Dieses Jahr wolle die Kommune Löhne im Wert von rund 330.000 Euro auszahlen.
Von der Politik, sagt Moreno, erwarte er nichts. Aber die Farc habe beschlossen, Frieden zu schließen. Das sei jetzt also ihre Aufgabe, den Friedensprozess am Leben zu halten. Es gehe darum, dieses Land zu heilen.
Manchmal denke er an die vielen Menschen, die gestorben sind, Verwandte Freunde, Freundinnen, Kameraden, die er verloren habe. Dann stellt er sich die Toten lebendig vor und überlegt, wie er sie am besten auf seiner Farm einsetzen könnte, ob sie besser Zwiebeln pflanzen oder Avocados ernten sollten, die Schweine füttern oder sich um die Fische kümmern.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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