
Rukia Hassan mit vier ihrer acht Kinder
Foto:Brian Otieno / DER SPIEGEL
Hunger in Kenia »Alles ist extrem, nichts ist mehr normal. Es gibt nichts mehr, woran wir uns festhalten können«

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Der Wind bläst unerbittlich, er treibt den Sand in die Augen, die Frauen müssen ihre bunten Gewänder mit aller Kraft festhalten. Wind bedeutet aber auch: kein Regen. Der Sturm wird die dunklen Wolken über das Dorf Kesi im Nordosten Kenias hinwegfegen, wieder einmal. Seit drei Jahren geht das so, eine Regenzeit nach der anderen fällt aus.
Rukia Hassan umklammert ein lilafarbenes Heft, als würde es ihr Halt geben, während alles um sie herum zerfällt. In der Kladde sind die Daten ihrer acht Kinder vermerkt: Größe, Gewicht, letzte Impfung. Hassan steht mit ihrer dreijährigen Tochter Maka unter der großen Akazie des Dorfes, einem der wenigen verbliebenen Flecken Grün. Ein Team aus Ärzten und Krankenschwestern ist heute zu Besuch in Kesi, sie haben unter dem Baum Bastmatten ausgebreitet, tragen Werte in die lila Hefte ein.

Mobile Klinik unter der Akazie
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Die kleinen Kinder bekommen im Schatten der Akazie eine Polioimpfung
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Rukia Hassan mit ihrer Tochter: Makas Werte sehen nicht gut aus
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Ein Team aus Ärzten und Krankenschwestern ist heute zu Besuch in Kesi
Foto: Brian Otieno / DER SPIEGELMakas Werte sehen gar nicht gut aus. Das Kind klammert sich mit einer Hand fest an das lange Kleid der Mutter, während die Krankenschwester ein Maßband um seinen kleinen Oberarm legt. Das Band hat drei Bereiche: grün, gelb und rot. Bei Maka schließt es bei Gelb, das heißt: unterernährt, die Ärzte müssen handeln. Die Dreijährige bekommt eine Packung Erdnusspaste, sie teilt sie sofort mit den anderen Kindern, auch wenn deren Arme etwas dicker sind.
Rukia Hassan, ihre Mutter, setzt sich auf eine Treppe vor der Dorfschule, sie muss sich ausruhen. Heute hat sie noch nichts gegessen, wieder einmal. Abends weinen ihre Kinder, wegen des Hungers haben sie Bauchschmerzen. So geht das ständig, bis sie vor Erschöpfung einschlafen – denn eine Mahlzeit ist nicht in Sicht. »Dieser Druck ist unerträglich. Ich fühle mich ohnmächtig, weil ich meine Kinder nicht versorgen kann. Wir hängen nur noch von Spenden ab«, sagt die achtfache Mutter. Sie habe selbst kaum noch Energie, manchmal isst ihre Familie zwei Tage lang gar nichts. Früher bekamen die Kinder wenigstens in der Schule ab und an eine Mahlzeit, doch die hat schon lange zu, weil es kein Wasser mehr gibt. Ohne Wasser kann man in der Hitze nicht lernen.
In Teilen Kenias überlagern sich gerade mehrere Krisen zu einem toxischen Mix: Aufgrund des Klimawandels bleibt der Regen aus, eine verheerende Dürre hat die Rinderherden dezimiert, die Ernten vernichtet. Normalerweise würden Rukia Hassan und ihr Mann in einer solchen Notlage einen Teil der Viehbestände verkaufen, mit den Einnahmen dann auf dem Markt genug Lebensmittel für die Trockenzeit besorgen. Doch die Dürre hat 30 der 40 Kühe dahingerafft, der Rest ist in einem schlechten Zustand, kaum noch etwas wert.

Rukia Hassan und ihre Familie: Ganz rechts die dreijährige Maka
Foto: Brian Otieno / DER SPIEGELHassans Mann ist mit dem verbliebenen Vieh aufgebrochen, auf der verzweifelten Suche nach Weideland. Im Dorf leben nur noch Frauen und Kinder. In früheren Dürrezeiten blieb mindestens eine Kuh bei ihnen, um regelmäßig Milch zu geben. Doch inzwischen würde die sofort sterben, der Klimawandel hat den Landstrich fast unbewohnbar gemacht.
Noch eine weitere Krise lässt die traditionellen Notlösungen versagen: Seit der Coronapandemie steigen die Preise für so ziemlich alle Gebrauchsgüter, der Krieg in der Ukraine hat die Aufwärtsspirale eskalieren lassen. Ein Sack Maismehl: Kostet inzwischen das Doppelte. Ein Liter Speiseöl: fast sechs Euro statt bislang 1,60 Euro. Die Fahrt mit dem Motorradtaxi zur nächstgelegenen Stadt: zwölf statt wie früher acht Euro. »Alles ist extrem, nichts ist mehr normal. Es gibt nichts mehr, woran wir uns festhalten können«, sagt Hassan. Inzwischen fährt sie gar nicht mehr in die Stadt, um dort etwas zu kaufen – allein die Kosten für das Motorrad würden das Budget auffressen. Von Lebensmitteln ganz zu schweigen. In Ostafrika liegt die Inflation inzwischen bei knapp acht Prozent, die Weltbank warnt bereits vor einem gefährlichen Mix aus steigenden Preisen und stagnierender Wirtschaft.
Die deutsche Hilfsorganisation Welthungerhilfe hat das mobile Ärzteteam in Kesi mitfinanziert. In ein paar Tagen werden die Helfer wiederkommen, dann erhalten Rukia Hassan und einige weitere Dürreopfer Bargeld, umgerechnet etwa 40 Euro pro Monat. Der Betrag ist genau berechnet, er muss zumindest anteilig für Maismehl, Gemüse und andere Grundnahrungsmittel für vier Wochen reichen. So die Theorie.
»Der Krieg in der Ukraine hat uns hart getroffen«, sagt Sarah Maiyo von der Welthungerhungerhilfe, sie ist für die Region um Kesi verantwortlich. »Die Preise haben sich teilweise verdoppelt, aber unsere Budgets sind nicht gestiegen.« Die praktische Konsequenz: Das Geld reicht nicht mehr, um den Hunger zu bekämpfen.

Sarah Maiyo, Regionalverantwortliche der Welthungerhilfe: »Die Preise haben sich teilweise verdoppelt, aber unsere Budgets sind nicht gestiegen«
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Fatuma Godhana vor dem Laden: Zwei kleine Plastiktütchen mit Reis
Foto: Brian Otieno / DER SPIEGEL100 Kilometer von Kesi entfernt betritt Fatuma Godhana einen kleinen Laden, er ist die Lebensader des Dorfes Bububu. Es ist früher Nachmittag, bald kommen Godhanas sieben Kinder aus der Schule zurück, die Mutter muss das Abendessen vorbereiten. Sie hält 200 Kenianische Schilling in der Hand, umgerechnet 1,60 Euro, mehr ist heute nicht drin. Mit leiser Stimme fragt sie den Verkäufer, was dafür zu bekommen sei. Am Ende hält sie zwei kleine Plastiktütchen mit Reis in der Hand, insgesamt 1250 Gramm. Dazu einen winzigen Schluck Speiseöl, abgefüllt in eine alte Plastikflasche. »Ich muss den Topf ankippen und das Essen auf einer Seite braten, damit das Öl reicht«, erklärt sie.
Die 40-Jährige ist Farmerin, ihr Leben spielt sich um den Fluss Tana River ab, der breite Strom fließt nicht weit von ihrem Haus entfernt. Im Dorf Bububu leben sie von einer speziellen Form der Landwirtschaft: Regelmäßig tritt der Tana River über die Ufer und wenn er sich wieder zurückzieht, pflanzen sie auf dem feuchten Boden Bananen, Mangos und Linsen, schon seit Generationen. Doch wegen des ausbleibenden Regens tritt der Fluss nicht mehr über die Ufer, der Boden ist staubtrocken, ihre Ernte ist eingegangen.

Frauen und Kinder auf der Suche nach Wasser
Foto: Brian Otieno / DER SPIEGEL
Wegen des ausbleibenden Regens tritt der Fluss nicht mehr über die Ufer, der Boden ist staubtrocken, die Ernte eingegangen
Foto: Brian Otieno / DER SPIEGELAnfang Juni hat auch Godhana eine Bargeldauszahlung der Welthungerhilfe bekommen, umgerechnet 40 Euro. Das Geld war schnell aufgebraucht. Normalerweise benötigt sie für ihre achtköpfige Familie zwei Kilogramm Maismehl pro Mahlzeit, um daraus eine Art Polenta zuzubereiten. Doch derzeit kann sie sich nur noch die Hälfte leisten. »Wir essen, um zumindest irgendetwas im Magen zu haben, nicht um satt zu werden«, berichtet Godhana. Ihre Kinder haben bereits abgenommen.
Reis ist inzwischen etwas billiger als Maismehl, doch die beiden kleinen Säckchen werden wieder nicht für die Familie reichen. Bald steht die nächste Bargeldauszahlung der Welthungerhilfe an, Godhana weiß jetzt schon: »Diesmal geht das Geld noch schneller aus.« Denn die Preise steigen täglich weiter.
Sarah Maiyo steht neben ihr, sie macht sich Notizen. Vielleicht können sie die Bargeldauszahlungen demnächst erhöhen, wenn die Geldgeber mitspielen. Doch viele Regierungen fokussieren ihre Hilfe lieber auf die Ukraine, andere Krisen geraten in Vergessenheit. Der Verteilungskampf wird härter, dabei hat die Trockenzeit in Kenia gerade erst begonnen, die Zahl der Hungernden wird in den kommenden Wochen deutlich steigen.
Maiyos Team versucht noch eine andere Taktik. Sie versorgen Landwirte, die Zugang zu Bewässerung haben, mit Dünger und anderen Betriebsmitteln. Mehr lokal produzierte Lebensmittel würden langfristig die Preise senken, so die Logik. Doch seit Putins Einmarsch in der Ukraine ist auch der Düngerpreis explodiert, die Welthungerhilfe kann nur noch die Hälfte der Farmer beliefern. Weniger Düngemittel heißt: weniger Ertrag. Und infolgedessen weiter steigende Preise. Der Krieg in der Ukraine löst im weit entfernten Osten Afrikas eine Spirale des Hungers aus.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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