Kriminalität in der Coronakrise Der Bandit - dein Freund und Helfer

Kriminelle Organisationen setzen den Corona-Lockdown mit Gewalt durch - auch weil sie fürchten, dass sich das Virus sonst unter ihren eigenen Mitgliedern verbreitet
Foto:Goran Tomasevic/ REUTERS

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Wer sich in El Salvador nicht an die Corona-Ausgangssperre hält, riskiert Prügel. Gangmitglieder zwingen Bürger dazu, ihnen den Rücken zuzudrehen - dann schlagen sie ihnen mit Baseballschlägern in die Kniekehlen und auf die Schenkel. Bestrafungsaktionen wie diese haben die Kriminellen zur Abschreckung gefilmt und online verbreitet . Die drei großen Gangs MS-13 und die beiden Barrio 18-Fraktionen Sureños und Revolucionarios setzen in den von ihnen kontrollierten Vierteln die staatlichen Präventionsmaßnahmen durch, auch mit Gewalt.
“Banden haben per Messenger Audio-Nachrichten an die Gemeindemitglieder geschickt und sie aufgefordert, sich an die von der Regierung angeordnete Ausgangssperre zu halten, andernfalls würden sie Vergeltungsmaßnahmen ergreifen”, sagt die Sicherheitsexpertin Jeannette Aguilar aus El Salvador. “Sie scheinen als Unterstützer der Regierung zu agieren – aber zweifelsohne nutzen sie diese Situation aus, um ihre Autorität und Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben.”
Kriminelle als Wohltäter
In der Coronakrise treten kriminelle, aber auch terroristische Organisationen in vielen Ländern als Krisenhelfer auf. Gangmitglieder aus El Salvador setzen dabei nicht nur auf Strafen, sondern verteilen auch Lebensmittel in Armenvierteln. Auch italienische Mafiosi und mexikanische Gangs und Kartelle liefern Notpakete aus – und in Afghanistan klären Taliban-Kämpfer Dorfbewohner über das Coronavirus auf. Die japanische Yakuza hat angeboten, ein Kreuzfahrtschiff zu reinigen, auf dem sich Passagiere mit Corona infiziert hatten. In Kolumbien hat die Guerilla ELN (Nationale Befreiungsarmee) einen einmonatigen Waffenstillstand verkündet - als "humanitäre Geste" – damit sich die Sicherheitskräfte auf die Coronakrise konzentrieren könnten.
“Es ist nicht das erste Mal, dass militante Gruppen Regierungsfunktionen übernehmen – viele tun dies alltäglich”, sagt Vanda Felbab-Brown, Konfliktforscherin beim Washingtoner Think Tank Brookings. "Und wie Politiker wollen kriminelle Gruppen politisches Kapital aus der Krise schlagen." Das Phänomen, das Kriminelle sich als Wohltäter oder als Ordnungsmacht präsentieren, sei nicht neu – bereits der kolumbianische Drogenchef Pablo Escobar habe sich etwa als Patron der Armen inszeniert und Häuser, Kliniken, Sportplätze gebaut.
Vanda Felbab-Brown, Konfliktforscherin beim Washingtoner Think Tank Brookings
Heute ist die Krisenhilfe von Gangs, Kartellen und Terrororganisationen jedoch sichtbarer als je zuvor – weil sie auf massive Eigen-PR im Internet setzen. Sie dokumentieren ihr Engagement mit Fotos und Videos und verbreiten die Aufnahmen in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram oder YouTube.

Auch in Kabul haben wegen der Corona-Pandemie die Geschäfte geschlossen. Die Taliban spielen sich als Helfer in der Krise auf
Foto: Rahmat Gul/ dpa"Die Hilfe kommt nicht von der Regierung und von keiner politischen Partei", sagt etwa ein Mitglied der Bande Barrio 18-Sureños in einem Video aus dem Off, während er die Übergabe von Lebensmitteln an Familien in einem Armenviertel in El Salvador filmt. In einer Aufnahme aus dem mexikanischen Bundesstaat Michoacán ist zu sehen, wie bewaffnete Männer der Bande "Los Viagras " im Namen des "El Señor de la Virgen" Lebensmittelpakete verteilten. Seine Leute seien gekommen, "um jedem eine Spende zu schenken", sagt einer der Männer. "Sie regieren hier."
Drogenkartelle als Wohltäter
Bereits nach Tropensturm-Verwüstungen, aber auch nach Erdbeben hatten sich Organisationen wie das mexikanische Golfkartell als Wohlfahrtsorganisationen inszeniert. In der Coronakrise verteilen Mexikos kriminelle Gruppen Kartons, auf denen bedruckte Banderolen den Absender zeigen - etwa durch ein Logo wie einen Cowboyhut oder Hahn.
"Selbst die Gruppen, die normalerweise allein durch Brutalität herrschen wie das Cartel Jalisco Nueva Generación oder Zetas-Splittergruppen haben jetzt verstanden, dass sie auf den Zug aufspringen müssen, um als Versorger angesehen zu werden und Unterstützung zu gewinnen", sagt Konfliktforscherin Felbab-Brown.
Mit ihren Aktivitäten dehnen die Gruppen ihren Machtanspruch aus. Je mehr ein Staat in der Coronakrise versagt, desto stärker besetzen militante Gruppen das Machtvakuum. In Afghanistan positionieren sich die Taliban als alternative Ordnungsmacht. "Sie haben die Covid-19-Krise genutzt, um sich als eine Einheit zu präsentieren, die in der Lage ist, effektiver zu regieren als die gewählte und international anerkannte Regierung in Kabul", so die Sicherheitsanalystin Mariam Wardak .
Während die Terroristen in der Vergangenheit in Pakistan und Afghanistan noch Jagd auf Polio-Impfteams gemacht haben, geben sie sich nun als Vorkämpfer gegen das Coronavirus, betreiben Aufklärungskampagnen und haben angekündigt, auch medizinischem Personal Zugang zu den von ihnen kontrollierten Gebieten zu gewähren.
"Die Taliban haben einen Strategiewechsel hinter sich", sagt auch Felbab-Brown. So würden sie etwa eigenes Sicherheitspersonal in Kliniken positionieren und etwa Mitarbeiter bestrafen, die Medikamente stehlen. Die Regierung in Kabul müsse sich mit den militanten Helfern arrangieren: "Der Staat ist nicht mächtig genug, um die Taliban davon abzuhalten – es gibt keine andere Option."
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Kampf um das eigene Überleben
Mit ihrem Einsatz wollen kriminelle und terroristische Organisationen aber nicht nur ihr Image verbessern. Für Straßengangs wie in El Salvador ist der Kampf gegen die Coronakrise auch ein Kampf um das eigene Überleben.
Ihre Machtbasen und Wohnviertel sind Armensiedlungen, in denen die Menschen dichtgedrängt leben und die hygienischen Zustände und die Gesundheitsversorgung schon vor dem Ausbruch des Coronavirus mangelhaft waren – breitet sich das Virus dort rasant aus, sind auch die Gangmitglieder gefährdet. Die Gangs in El Salvador haben auch deswegen so schnell auf die Coronakrise reagiert und Ausgangssperren aggressiv durchgesetzt, weil sie befürchten, dass infizierten Gangmitgliedern in Krankenhäusern eine gute Behandlung verwehrt wird und sie reihenweise sterben müssen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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