Lateinamerika Das nächste Zentrum der Corona-Pandemie

Tote werden in Massengräbern begraben, Menschen suchen nach verstorbenen Angehörigen: Lateinamerika entwickelt sich zu einem neuen Zentrum der Coronakrise.
Friedhofsmitarbeiter und Angehörige eines Verstorbenen in São Paulo

Friedhofsmitarbeiter und Angehörige eines Verstorbenen in São Paulo

Foto: Amanda Perobelli/ REUTERS

Sie hatten Masken vorm Gesicht, trugen weiße Kittel und auf dem Rücken die Namen ihrer toten Kollegen: Bei einer Demonstration in Brasiliens Hauptstadt Brasilia am 12. Mai gedachten Krankenpflegerinnen und -pfleger der 109 Angehörigen der Berufsgruppe im Land, die Covid-19 bisher das Leben gekostet hat.

Am selben Tag, dem Internationalen Tag der Pflege, verkündete  Brasiliens Gesundheitsministerium einen neuen Höchstwert: 881 Corona-Tote binnen 24 Stunden. Mit inzwischen rund 15.600 Verstorbenen und mehr als 230.000 Fällen, so die offizielle Erfassung, ist Brasilien das Zentrum der Pandemie in Lateinamerika; einer Region, die wiederum im Begriff ist, zum nächsten globalen Hotspot der Krise zu werden.

96.000 Ansteckungen in einer Woche

"Lateinamerika wird wahrscheinlich das neue Zentrum der Pandemie sein", sagt Ana de Lemos. Die Brasilien-Chefin von Ärzte ohne Grenzen verweist auf den rapiden Anstieg der Infektions- und Todeszahlen. Laut WHO  verzeichnete allein Südamerika in der vergangenen Woche 96.000 neue Ansteckungen und rund 5500 zusätzliche Todesfälle - ein Zuwachs von 45 beziehungsweise 51 Prozent. Weiter nördlich, in Mexiko, meldeten Behörden in dieser Woche ebenfalls einen Höchstwert an Toten in einem 24-Stunden-Zeitraum.

Die amtlichen Zahlen dürften das volle Ausmaß der Krise vor allem in den beiden bevölkerungsreichsten Ländern Lateinamerikas kaum erfassen. Berichte von Bestattern und medizinischem Personal sowie Analysen von Forschern legen nahe, dass deutlich mehr Menschen an den Folgen des Virus gestorben sind als bislang bekannt. Ähnliches gilt für Mexiko mit seinen offiziell  circa 5000 Toten.

Protest in Brasilia

Protest in Brasilia

Foto: Andressa Anholete/ Getty Images

Die "New York Times" analysierte  die sogenannte Übersterblichkeit für drei besonders stark betroffene Städte in Südamerika. Die Zeitung verglich die Gesamtzahl der Toten in den vergangenen Monaten mit einem Durchschnittswert der vergangenen Jahre. Erfasst wurden nicht nur Covid-Todesfälle, sondern auch solche mit anderen Ursachen, darunter auch die Fälle von Verstorbenen, die wegen der Überlastung von Krankenhäusern nicht behandelt werden konnten. Die Lage, so das Ergebnis, sei vergleichbar mit den Zentren der Krise in Europa und den USA.

In Perus Hauptstadt Lima starben doppelt so viele Menschen wie gewöhnlich – ein Wert vergleichbar mit dem schlimmsten Monat in Paris.

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In Manaus, einer Zwei-Millionen-Stadt tief im brasilianischen Regenwald, verdreifachte sich die Zahl der Toten – eine Entwicklung ähnlich der in London und Madrid.

Die Lage in der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil, einem frühen Brennpunkt in der Region, war der Analyse zufolge im April vergleichbar mit dem Höhepunkt der Krise in New York: Es starben mehr als fünfmal so viele Menschen wie in den vergangenen Jahren.

In brasilianischen Städten werden schon jetzt Massengräber ausgehoben, Tote werden in übereinandergestapelten Särgen begraben. Im Land wird wenig getestet; manchen epidemiologischen Modellen zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Infektionsfälle fünfzehnmal so hoch sein wie der offizielle Wert.

Das Schlimmste dürfte erst noch kommen: Er glaube, dass sein Land der Marke von 100.000 Toten nahekommen werde, sagte ein Intensivmediziner aus São Paulo dem US-Magazin "The Atlantic" . Das Land werde sich zum nächsten globalen Zentrum der Pandemie entwickeln, die Metropole Rio de Janeiro zu Brasiliens New York.

Brasiliens Präsident Bolsonaro posiert für Selfies

Brasiliens Präsident Bolsonaro posiert für Selfies

Foto: THOMAS COEX/ AFP

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro spielte das Virus in der Vergangenheit als "kleine Grippe" herunter. Die jüngste Verschärfung der Lage kommentierte er mit den Worten: "Es tut mir leid. Was wollen Sie, dass ich tue?"

Die Gouverneure der meisten Bundesstaaten haben Bolsonaro zwar kritisiert, selbst aber auch keine flächendeckenden Lockdowns verfügt. Stattdessen erließen sie Letztere nur für einzelne Städte oder übertrugen die Entscheidung an Bürgermeister. Bolsonaro drängt darauf, die bestehenden Maßnahmen zu lockern, da die wirtschaftlichen Schäden in seinen Augen überwiegen.

Szenen der Not

Auch Bolsonaros mexikanischer Amtskollege Andrés Manuel López Obrador verdrängte lange den Ernst der Situation. Im März noch verteilte er bei großen Ansammlungen Küsse und Umarmungen an seine Anhänger. Die zwischenzeitlich erlassenen Corona-Maßnahmen sollen nun gelockert werden – unter anderem auf Druck des Nachbarn im Norden.

US-Offizielle drangen zuletzt auf eine Öffnung der Autofabriken an der Grenze zwischen den beiden Staaten. Am Montag soll die Auto- und Baubranche den Betrieb wieder aufnehmen, ebenso Schulen und Geschäfte in ausgewählten "Gemeinden der Hoffnung". Anfang Juni soll dann der Rest des Landes folgen.

Mexikos Präsident López Obrador

Mexikos Präsident López Obrador

Foto: Henry Romero/ REUTERS

López Obrador erklärte diese Woche den Sieg im Kampf gegen das Virus. Es sei gelungen, die Kurve abzuflachen. Alejandro Macias, ein früherer Grippebeauftragter des Landes, sieht das anders. Die jüngsten Zahlen zeigten, dass man sich noch immer im Anstieg befinde, twitterte er.

So zögerlich die Antworten Brasiliens und Mexikos auf die Ausbreitung des Virus ausfielen, so konsequent war die Perus. Präsident Martín Vizcarra verhängte schnell einen der striktesten Lockdowns der Region.

Und doch zeigt sich immer deutlicher, dass die Pandemie auch dieses Land hart trifft. Das Gesundheitssystem in Lima ist laut WHO im Begriff, überwältigt zu werden. Die Organisation weist darauf hin, dass das Virus – ähnlich wie in Brasilien – besonders heftig in der indigenen Bevölkerung wütet. Ärzte in der Amazonasregion Loreto berichten von einem Covid-19-Toten pro Stunde.

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Verglichen mit Europa und den USA können die Länder Lateinamerikas der Krise nur wenig entgegensetzen. Jahre wirtschaftlicher Stagnation führten in einer Reihe von Staaten zu Kürzungen im Gesundheitssystem. Auf dem Weltmarkt für Schutzausrüstung müssen sie mit reichen Ländern konkurrieren .

Und so mehrten sich zuletzt Szenen der Not in der Region. Zehntausende geflohener Venezolaner mussten den Fußweg zurück in ihre – weitgehend kollabierte – Heimat antreten, weil es in den Nachbarländern kaum noch Jobs gibt.

In Peru kam es aus demselben Grund zur größten internen Migration seit Jahren: aus der Hauptstadt Lima raus aufs Land. Und im ecuadorianischen Guayaquil, wo das Bestattungswesen zwischenzeitlich zusammenbrach, suchen Menschen weiter nach den Leichen von Angehörigen.

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