Protest gegen neues Flüchtlingslager Rebellion auf Lesbos

Sturm auf die Militäranlage: Lange nicht mehr haben griechische Protestler die Staatsmacht so herausgefordert
Foto: Michael Varaklas/ APUm halb acht, als die Sonne schon untergegangen ist, versinkt Lesbos im Chaos. Zweitausend Demonstranten belagern an diesem Mittwochabend eine Militäranlage nahe der Hauptstadt der griechischen Insel. Hinter den Mauern verstecken sich die Einheiten der griechischen Bereitschaftspolizei.
Sie sind in der Nacht zuvor angekommen, im Schutz der Dunkelheit. Ihr Auftrag: Sicherstellen, dass ein neues, geschlossenes Flüchtlingslager mitsamt Abschiebezentrum auf Lesbos gebaut werden kann.
Die Inselbewohner antworten mit Gewalt. Griechen mit Kapuzen auf dem Kopf und Tüchern vor dem Gesicht schleudern Hunderte Steine auf die Polizisten. Am Eingangsbereich der Militäranlage lodert ein Feuer. Einige besonders gewalttätige Demonstranten rennen auf die Polizisten zu, versuchen die Mauern zu überwinden. Die Polizisten schlagen auf sie ein, nur mit Mühe können die Beamten die Demonstranten zurückdrängen. Tränengasschwaden wabern durch die Luft.
Protesters tried to breach military barracks #Lesvos verging towards civil unrest pic.twitter.com/SuvcFxKCMK
— Giorgos Christides (@g_christides) February 26, 2020
Demonstranten fordern Staatsmacht heraus
Die Szene ist der Höhepunkt eines Tages der Gewalt auf Lesbos, der die griechische Regierung noch lange beschäftigen wird. Schon lange nicht mehr haben protestierende Griechen, darunter linke, rechte und bürgerliche, die Staatsmacht so herausgefordert wie an diesem Tag. Zeitweise verlor die Polizei die Kontrolle, die Wut der Inselbewohner brach sich Bahn - mit nur einem Ziel: Den Mächtigen in Athen zeigen, dass die Menschen auf Lesbos nichts von ihrer Flüchtlingspolitik halten. Die Pläne der Regierung stehen nun mehr denn je in Frage.
Begonnen hatte der Protest am Mittwochmorgen friedlich. In Mytileni, der Hauptstadt der Insel, blieben die Geschäfte geschlossen, nachdem die Einheimischen zu einem Generalstreik aufgerufen hatten.

"Es wird hier kein Lager geben": Proteste in Mytileni, der Hauptstadt von Lesbos
Foto: Michael Varaklas/ APDoch rund um die Felder und Waldgebiete im Norden der Insel, wo das geschlossene Camp entstehen soll, blockieren Demonstranten die Zufahrtswege mit Autoreifen. Sie fällen Bäume und schichten Steine auf. "Es wird hier kein Lager geben. Wir wollen es nicht, wir werden es nicht erlauben", sagt ein 55 Jahre alter Mann.
Stundenlang liefern sich die Demonstranten und Polizisten Straßenschlachten. Zwei Beamte werden angeschossen. Auf Lesbos und Chios, einer weiteren Ägäis-Insel, stürmen Hunderte Griechen jeweils ein Hotel, in dem Polizisten untergebracht sind. Der Mob verprügelt die Beamten.
Viele Demonstranten, unterschiedliche Beweggründe

Molotow-Cocktails gegen Polizisten: Die Beamten wurden mit Gewalt empfangen
Foto: ARIS MESSINIS/ AFPDie griechische Polizei beantwortet die Wut der Inselbewohner ihrerseits mit Gewalt. Während die Beamten durch die Straßen marschieren, schlagen sie auf parkende Autos und Motorräder ein. Polizisten schreien friedliche Demonstranten und Journalisten an, beleidigen und schubsen sie. "Die Polizei ist brutal. Griechenland ist kein Polizeistaat. Hier stehen auch junge Leute und Frauen", sagt ein Demonstrant, während er sich seine tränenden Augen mit Wasser auswäscht.
Erst spät am Abend bekommt die Polizei die Lage auf Lesbos unter Kontrolle. Mit einem Wasserwerfer und massiver Verstärkung gelingt es ihr, die Protestierenden zurückzudrängen. Unter den Protestierenden sind an diesem Tag junge und alte Menschen, Bauern und Radikale. Sie alle halten nichts von dem neuen geschlossenen Lager, allerdings aus unterschiedlichen Gründen:
Ein Ladenbesitzer fürchtet um die Tourismus-Einnahmen.
Eine Mutter hat Angst um die Sicherheit ihrer Kinder.
Eine junge linke Frau möchte nicht, dass ihre Insel sich in ein riesiges Gefängnis verwandelt.
Ein Rechter besteht darauf, Flüchtlinge grundsätzlich in die Wüste zu schicken.
Und eine ältere Frau lebt direkt neben dem geplanten Camp. Sie fürchtet, dass neben ihrem Haus ein neues Moria entsteht. Der Name des Dorfes, neben dem das bisherige Elendslager steht, ist zu einer Chiffre für das Leid der Flüchtlinge geworden.

Protest in den Hügeln von Lesbos: Demonstrierende fliehen vor dem Tränengas
Foto: ARIS MESSINIS/ AFPEinige Beispiele, die deutlich machen, wie heterogen der Protest ist. Dass die Zustände im Camp Moria katastrophal und unhaltbar sind, ist unbestritten. Rund 20.000 Flüchtlinge hausen in dem Lager inzwischen, fast sieben Mal so viele, wie das Camp eigentlich fassen kann. Zwischen den Zelten herrschen unmenschliche Zustände. Menschenrechts- und Hilfsorganisationen kritisieren seit Jahren die Lage, trotzdem wird sie von Monat zu Monat schlechter.
Abschrecken als Lösung
Die geschlossenen Lager sind so etwas wie der letzte verzweifelte Plan der griechischen Regierung, um mit den Flüchtlingszahlen fertig zu werden, die seit dem vergangenen Sommer wieder steigen. Schnellere Abschiebungen, schnellere Verfahren, geschlossene Lager sind allerdings auch die Maßnahmen, die man Athen in Berlin und Brüssel empfohlen hat. Die Idee: Sobald sich rumspricht, dass abgeschoben wird, kommen wieder weniger Flüchtlinge.
Durch die beispiellose Gewalt auf Lesbos kommen nun Zweifel auf. Die harsche Reaktion der Bevölkerung zeigt, dass die Pläne wie ein Kartenhaus zusammenstürzen können. Sie wurden ohne die Männer und Frauen von Lesbos gemacht. Seit Mittwoch aber ist klar, dass es ohne sie nicht geht. Die Regierung muss nun eine Schlacht der Herzen gewinnen, mit Tränengas wird das schwer.

Ein Demonstrant auf Lesbos hält einen Knüppel in der Hand
Foto: Michael Varaklas/ APOffenbar hat das auch Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsotakis verstanden. Er will die Einheiten der Bereitschaftspolizei wieder abziehen. Zudem trifft er sich am Donnerstag mit den Bürgermeistern der Ägäis-Inseln, auf denen Lager entstehen sollen.
Die wütenden Anwohner von Lesbos wollen allerdings weiter protestieren, bis die Regierung die geschlossenen Camps aufgibt. "Bis dahin werde ich jeden Tag hier sein", sagt einer der Demonstranten am Abend. Was das bedeuten kann, hat die Regierung am Mittwoch erfahren. 43 Polizisten und zehn Demonstranten wurden allein auf Lesbos verletzt. Die Frage ist nun, wer als erster einlenkt.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.