LGBTQ-Community in Afghanistan Nadim, verheiratet, schwul, in Lebensgefahr

Homosexuell zu sein, war in Afghanistan schon immer gefährlich und stigmatisiert. Seit die Taliban weite Teile des Landes beherrschen, ist es ein Todesurteil. Hier berichtet ein schwuler Familienvater aus Kabul.
Für queere Menschen ist die Lage in Afghanistan, seit die Taliban zurück sind, lebensgefährlich

Für queere Menschen ist die Lage in Afghanistan, seit die Taliban zurück sind, lebensgefährlich

Foto: Oliver Byunggyu Woo / EyeEm / Getty Images
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

Alle Artikel

Es gehört zu den Grausamkeiten der vergangenen Wochen in Afghanistan, dass die Menschen vor Ort, die es wagen zu sprechen, die in Interviews davon berichten, wie dreckig es ihnen geht, die in den Medien nach Hilfe rufen, meist ohne Namen bleiben müssen.

Gäben die Berichte ihre echten Namen preis, ihre echten Berufe, ihr echtes Alter, würden die Menschen leichter gefunden werden von den Taliban, die ja jetzt schon Social-Media-Profile, Webseiten und Wohnungen nach Gegnerinnen und Gegnern absuchen, nach Afghaninnen und Afghanen, die ein Leben leben, das in der Logik der Extremisten bestraft werden muss.

Der Mann, um den es in dieser Geschichte gehen soll, hat dem SPIEGEL die Kopie seines Reisepasses geschickt, den Link zu seinem Instagram-Profil, wo er mehrere Tausend Follower hat. Seinen Arbeitsvertrag, seine Nummer bei WhatsApp. Nichts davon wird hier im Detail erzählt werden können. Es wäre für ihn lebensgefährlich.

Denn Nadim, so soll er jetzt heißen, ist schwul.

Homosexuelle mit Tod bestraft, gesteinigt, erschossen

Nadim erzählt: »Als die Taliban an dem Sonntag nach Kabul kamen, war ich gerade bei der Arbeit. Jemand hat mir eine Nachricht geschickt: Sie sind da. Du musst dich verstecken. Ich war nervös. Schrecklich nervös. Wenn sie mich jetzt erwischen, habe ich gedacht, bringen sie mich um.«

Nadim, zwischen 30 und 40 Jahre alt, lebt in Kabul. Er hat dort, so viel kann man sagen, einen guten Job im Kosmetikbereich, er hat viel mit Schönheit zu tun, er liebt seinen Job. Er hat eine Frau und mehrere Kinder. Er sagt, viele Homosexuelle in Afghanistan seien verheiratet. Weil sie dazu von ihrer Familie gezwungen werden. Oder weil es ihr Schutz ist, ihre Lebensversicherung: Weil die Leute denken, ein Mann, der eine Frau hat, kann keinen Mann lieben.

Taliban kontrollieren Kabuls Flughafen am Dienstag

Taliban kontrollieren Kabuls Flughafen am Dienstag

Foto:

Bashir Darwish / imago images/UPI Photo

Als Nadim an dem Sonntag die Nachricht über die Rückkehr der Taliban erhält, wirft er sich typische Männerklamotten über, die er sonst nicht trägt. Eine Jeans, ein Hemd und einen Schal, den er sich tief ins Gesicht zieht. Er ist manchmal bei der Arbeit ein bisschen geschminkt, das darf jetzt niemand sehen, denkt er. Dann verlässt er seine Arbeitsstätte, geht nach Hause, er kann sich aber nicht mehr an den Heimweg erinnern, weil er, wie er sagt, wie benebelt war.

In der Scharia-Auslegung der Taliban  ist Homosexualität streng verboten und wird mit dem Tod bestraft. Queere Menschen werden erschossen, gesteinigt; Menschen wie Nadim sind seit dem 15. August 2021, als die Taliban kamen und Kabul in wenigen Stunden einnahmen, massiv in Gefahr. Der afghanische Autor und Aktivist Nemat Sadat, der in den USA lebt, schrieb bei Twitter , die Taliban wollten queere Menschen »ausrotten und aus der afghanischen Gesellschaft tilgen«.

Schätzungen zufolge sind etwa fünf Prozent der 38 Millionen Afghaninnen und Afghanen der queeren Community zuzurechnen. Statistische Erhebungen gibt es nicht, denn sich als lesbisch, schwul, trans- oder intersexuell zu outen, war schon bevor die Taliban kamen – als die internationalen Truppen noch im Land waren – bedrohlich. Auch da wurden queere Personen vor Gericht gezogen, über Jahre inhaftiert. In der afghanischen Gesellschaft werden sie diskriminiert, an den Rand gedrängt.

Familie muss alle paar Tage Schlafplatz wechseln

Nadim sagt, er habe jetzt furchtbare Angst, dass wegen seiner sexuellen Orientierung auch seine Frau und seine Kinder in Gefahr sind. Sie haben ihre Wohnung verlassen und werden nicht mehr dorthin zurückgehen. Sie schlafen jetzt alle bei seinen Eltern, bei seiner Schwester, bei Freunden. Alle paar Tage wechseln sie ihren Schlafplatz.

Er will mit ihnen raus aus dem Land, wie die vielen anderen Tausend Afghanen, die in diesen Tagen verzweifelt versuchen, den Flughafen zu erreichen, es auf eine Evakuierungsliste zu schaffen. Ob es als Ausreise- und Asylgrund gilt, der queeren Community in Afghanistan anzugehören, ist in vielen Ländern unklar. Kanada etwa hat aber versprochen, 20.000 Afghanen aufzunehmen,und schließt dabei ausdrücklich auch queere Personen mit ein.

Nadim hat sich in der Schule, vielleicht war er 14 oder 15, zum ersten Mal verliebt in einen älteren Jungen. Als seine Eltern die beiden zusammen erwischten, wurde Nadim geschlagen, wurde im Haus eingesperrt. »Warum machst du das?«, fragte die Mutter. Nadim hatte keine Antwort. Er hatte keinen Namen für das, was er war, keinen Internetzugang, kein Google, keine Chats. Niemanden, den er fragen konnte. Er wusste nur, dass er sich irgendwie zu Männern hingezogen fühlte.

»Wenn du blutig geschlagen wirst, darfst du dich nicht wehren.«

Hamid, ein homosexueller Freund von Nadim, der in Deutschland lebt

Seine Mutter sagte, er sei krank. Nach der Schule missbrauchten mehrere Männer ihn, erpressten ihn mit dem Satz: Wenn du das nicht weiter mitmachst, erzählen wir deinen Eltern davon. Nadim schluckte irgendwann Schlaftabletten, weil er das alles nicht mehr aushielt. Er überlebte, traf endlich einen Arzt, der ihm half, weil er sagte: Du bist nicht krank. Du bist homosexuell. Du musst weg von deiner Familie. Nadim ging nach Kabul, in die große Stadt.

In Kabul findet Nadim die Nischen, in denen er sein kann, wer er ist. Er sagt, auch wenn vieles versteckt ablaufen müsse, erkenne man sich auf der Straße. Es gebe gewisse Codes, die die queere Community lesen könne. So findet Nadim andere, die sind wie er. Er verliebt sich. Er hat einen Freund. Er trennt sich. Er vermisst. Wie Liebe eben ist, sagt er.

Er sagt: »Ich glaube, alle in meiner Familie, auch meine Frau, wissen, dass ich homosexuell bin. Aber wir sprechen nicht darüber. Wir haben uns ganz gut damit eingerichtet.«

Nadim versucht jetzt, so wenig wie möglich auf die Straße zu gehen. Er kann nicht mehr zur Arbeit. Er versucht erst gar nicht mit dem Mann zu chatten, den er gerade seinen Boyfriend nennt. Es wäre zu riskant für beide.

Nadim wendet sich an Aids-Hilfe in Frankfurt

Die kleinen Freiheiten, die er sich in Kabul in den vergangenen Jahren genommen hat, gefärbte Wimpern, ein Ohrring, die getönten Haare, sind mit einem Mal zusammengebrochen. Wenn Nadim doch mal vor die Tür muss, einkaufen zum Beispiel, versucht er jetzt, so zu gehen wie die anderen Männer, sich zu bewegen wie sie.

Nadim sagt, seit die Taliban wieder da sind, habe er das Gefühl, sich selbst zu vermissen.

Wenn die Frage, wer man ist, nicht nur mit sich selbst, sondern vor allem im Austausch mit der Umwelt verhandelt wird, dann haben die Taliban vielen Menschen schon jetzt ein existenzielles Recht geraubt: das auf die eigene Identität.

Bild aus Nordafghanistan: »In Afghanistan musst du als homosexueller Mann immer schweigen«

Bild aus Nordafghanistan: »In Afghanistan musst du als homosexueller Mann immer schweigen«

Foto: RODRIGO ABD / AP

Das ganze Gespräch mit Nadim kann nur stattfinden, weil Hamid sich bereit erklären hat, zu übersetzen. Hamid ist ebenfalls Afghane, auch homosexuell. Hamid und Nadim kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Kabul.

Hamid hatte die Diskriminierung in Afghanistan schon vor Jahren nicht mehr ausgehalten. Er floh, zu Fuß, Pakistan, Iran, Türkei. Irgendwann Deutschland. Seit sieben Jahren ist er hier. Altenpfleger für eine ältere demente Frau. Er geht für LGBTQ-Rechte auf die Straße. Er kann in dieser Geschichte mit seinem echten Namen stehen. »In Deutschland bin ich frei. Ich bin zwar auch hier schon geschlagen worden. Aber hier kann ich mich wehren. Es gibt Gesetze, es gibt die Polizei. Ich habe Schutz. In Afghanistan musst du als homosexueller Mann immer schweigen. Wenn du blutig geschlagen wirst, darfst du dich nicht wehren.«

Zu dritt hängen wir im Gruppen-WhatsApp-Telefonat. Nadim erzählt, Hamid übersetzt. Nadim sagt noch einmal, wie dringend es sei, dass er so schnell wie möglich aus Afghanistan rauskomme. Mit seiner Familie. Er will auch nach Deutschland. Er hat sich an die Organisation Rainbow Refugees gewandt, die zusammen mit der Aids-Hilfe  in Frankfurt am Main die Familie nun unterstützt, auf eine Evakuierungsliste zu kommen. Nadim sagt, er will nicht sterben, er will endlich allen zeigen, wer er ist.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren