Krise im Libanon Im freien Fall

Protestlerin mit libanesischer Nationalflagge, Soldaten nördlich von Beirut (am 27. September): Die Stimmung ist niedergeschlagen
Foto: WAEL HAMZEH/EPA-EFE/ShutterstockSeit Kurzem hat das Cortado wieder eröffnet, eine der schicken Café-Bars in Beiruts christlichem Viertel Gemayze, das von der gigantischen Detonation am 4. August schwer verwüstet wurde. Am Freitagnachmittag saßen eine Handvoll Gäste vor dem Café, als eine Gruppe verschleierter Frauen vorbeilief.
Da geschah, so erzählt es einer der Gäste, etwas Ungewöhnliches: Einer der Gäste brüllte los, die Verschleierten sollten sich dahin verziehen, wo sie hergekommen seien. Er meinte, sie als Schiitinnen erkannt zu haben und setzte nach, dass deren Parteien das Land vollends ruinieren würden und deren Gefolgsleute gefälligst in ihren Vierteln im Süden der Stadt bleiben sollten.
"Ich entschuldige mich beim libanesischen Volk"
Eine selten gehörte Pöbelei in Beirut, aber mit einem prophetischen Kern: Einen Tag später gab der nächste Premierminister auf, keinen Monat, nachdem er ins Amt berufen worden war. Mustapha Adib, zuvor libanesischer Botschafter in Berlin, war daran gescheitert, ein Kabinett zu bilden.
Vor allem die Weigerung der beiden schiitischen Parteien, Hisbollah und Amal, das Finanzministerium aufzugeben, ließ Adib schließlich resignieren: "Ich entschuldige mich beim libanesischen Volk", sagte Adib in einer Fernsehansprache. Er gebe seine Versuche auf, eine Regierung zu bilden. Aber die französische Initiative müsse weitergehen.

Hat alles versucht, aber keinen Erfolg gehabt: Mustapha Adib
Foto: Marwan Naamani / dpaDoch genau die steht damit wieder am Nullpunkt. Mit dem ihm eigenen Furor war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in den vergangenen Wochen zweimal nach Beirut gereist, hatte die politische Elite dort beschworen, in der schwersten Krise des Libanon seit Jahrzehnten endlich ihre korrupte Klientelwirtschaft aufzugeben. "Selbstverständlich", versprachen Libanons Präsident Michel Aoun, ein ehemaliger Warlord des Bürgerkriegs, und alle anderen Fraktionen.
Noch am 31. August, Stunden von Macrons Ankunft, wurde Adib im Parlament zum Premier gekürt und sollte bis zum 15. September eine Technokraten-Regierung bilden. Die sollte endlich den Anfang machen, die elementarsten Forderungen des Weltwährungsfonds zu erfüllen, um Verhandlungen wiederaufzunehmen: eine Buchprüfung der Zentralbank sowie weitere Reformen der Regierungsarbeit, der Banken und des Energiesektors.
Das libanesische Pfund fällt - und fällt und fällt
Der Libanon ist wirtschaftlich am Ende. Ein über zwei Jahrzehnte aufrechterhaltenes Schneeballsystem, mit Sparer-Einlagen horrende Zinsen, Kredite an die Zentralbank und ein ebenso horrendes Staatsdefizit zu finanzieren, ist im Oktober 2019 kollabiert. Seither ist der Wert des libanesischen Pfunds um mehr als 80 Prozent gefallen, was das importabhängige Land ruiniert.
Am 4. August verwüstete überdies die Explosion von mutmaßlich mehr als 2000 Tonnen Ammoniumnitrat mehrere Stadtteile von Beirut. 200 Menschen starben, mehr als 6000 wurden verletzt. Sechs Jahre lang hatte der Sprengstoff im Hafen der Hauptstadt gelegen, war in der dysfunktionalen Bürokratie niemand dafür zuständig gewesen, ihn zu entsorgen.
Macron, der sich als Präsident der einstigen Mandatsmacht Frankreich in der Verantwortung fühlt, dachte, diese Detonation wäre ein Weckruf für die herrschenden Parteien, die sich im festgemauerten konfessionellen Proporzsystem des Libanon eingerichtet haben und die Staatsmacht als Lizenz zum Plündern verstehen.
"Heute sind ein paar Dutzend Menschen dabei, ein Land zu Fall zu bringen"
Doch kaum war Macron wieder abgereist, machten Libanons Mächtige weiter wie bisher. Zwar ist in der festgeschriebenen Ämterteilung, die einen Christen als Präsidenten, einen sunnitischen Muslim als Premier und einen schiitischen als Parlamentschef vorsieht, das Finanzministerium keiner Glaubensgruppe zugeschrieben.
Vor allem Nabih Berri aber, Chef der schiitischen Amal-Partei und des Parlaments, wollte das Finanzministerium nicht aufgeben. Zumal nicht, nachdem die US-Regierung einen seiner engsten Vertrauten wegen Korruption und Hisbollah-Unterstützung unter Sanktionen gestellt hatte.
Nach sechs Treffen mit Präsident Aoun gab Premier Adib angesichts dieser Blockadehaltung am Samstag schließlich auf. Macron schäumte, sprach von "kollektivem Verrat" am libanesischen Volk: "Heute sind ein paar Dutzend Menschen dabei, ein Land zu Fall zu bringen." Das tun sie, aber vor die Wahl gestellt, die Bevölkerung oder ihre Prinzipien zu verraten, bleiben sie lieber bei Ersterem.
Gegen wen kann man demonstrieren, wenn es keine Regierung gibt?
Wie es nun weitergehen soll, ist völlig unklar. Zwar soll es wie geplant Ende Oktober eine Konferenz mit der Uno und anderen Partnern geben, die internationale Hilfe für den Libanon zu organisieren, bekräftigte Macron in Paris. Doch mit welchen Partnern in Beirut diese Hilfe auf den Weg gebracht werden kann, weiß niemand. Die Regierungsbildung wäre ja nur der erste, vergleichsweise einfache Schritt gewesen, den libanesischen Staat wieder zu einem respektablen Partner zu machen.
Der Markt hat derweil sein Urteil gefällt über diese jüngste Obstruktion: Das libanesische Pfund, das sich eine Weile bei 7500 zum Dollar stabilisiert hatte, ist bis zum Montagmorgen auf 9000 zum Dollar gefallen.
Die Stimmung auf Beiruts Straßen ist niedergeschlagen. Aufrufe zu Demonstrationen stoßen kaum auf Widerhall. Denn nur gegen die schiitischen Parteien zu protestieren, wäre eine kurze Zündschnur zum Bürgerkrieg. "Aber welchen Sinn hat es, gegen die Regierung zu demonstrieren, wenn es nicht mal eine gibt?", sagt resignierend ein ehemaliger Aktivist.