Libanon nach Explosionen "Die Menschen machen sich nur noch Gedanken über ihre nächste Mahlzeit"

Die Explosionen im Hafen von Beirut haben den wichtigsten Kornspeicher der Stadt zerstört. Tausende im Libanon werden hungern, warnt der Nothelfer Hans Bederski. Besonders hart könnte es die syrischen Flüchtlinge treffen.
Ein Interview von Katrin Kuntz
Der Hafen von Beirut nach den Explosionen: Jahrzehntelange Korruption

Der Hafen von Beirut nach den Explosionen: Jahrzehntelange Korruption

Foto: Elizabeth Fitt/ SIPA/ action press

Der größte Kornspeicher Beiruts fasste zum Zeitpunkt der Explosionen 15.000 Tonnen Getreide. Er stand direkt am Hafen. Aufnahmen dieses Ortes zeigen heute Schutt und Asche. Dazwischen liegen Milliarden orangegelber Körner. Was dort zwischen grauen Ruinen schimmert, waren Weizen, Mais, Gerste - Nahrung für 6,8 Millionen Menschen im Libanon.

Bereits vor den verheerenden Explosionen steckte der Libanon in der Krise. Der große Hafen in Beirut galt als Lebensader eines Landes, das den Großteil seiner Nahrung importieren muss. Das Terminal, durch das Korn ins Land kam, und die Verladestation wurden bei den Explosionen ebenfalls zerstört.

Noch knapp einen Monat reichen die Kornvorräte für die Nation, teilte Libanons Wirtschaftsminister am Mittwoch mit. Man brauche aber Reserven für mindestens drei Monate, um sich gegen Notlagen abzusichern. Auch das Mehl reiche noch etwa eineinhalb Monate. Schiffe mit 28.000 Tonnen Weizen seien bereits unterwegs, etliche Importe müssen jetzt neu organisiert werden.

DER SPIEGEL

Auch Hans Bederski kümmert sich als Landesdirektor der Hilfsorganisation World Vision um die Not im Libanon, seit zwei Jahren lebt er mit seiner Familie im Land. Er stand am Dienstagabend gegen 18 Uhr Ortszeit in seiner Küche in einem Außenbezirk Beiruts. Neben ihm seine elfjährige Tochter. Bederski schnitt Zucchini, Pilze, Auberginen für das Abendessen. Doch dann knallte es.

SPIEGEL: Wie geht es Ihnen heute?

Bederski: Wir haben nach dem unglaublichen Knall ein Beben gespürt und dann von der Terrasse die Rauchschwaden gesehen. Seitdem kümmere ich mich um unsere Mitarbeiter. Zum Glück sind nur zwei leicht verletzt. Nach der ersten Nacht ist die Stimmung extrem gedrückt.

Zur Person
Foto: World Vision

Hans Bederski, 55, ist Leiter der internationalen Kinderhilfsorganisation World Vision im Libanon. Bederski hat zuvor in Usbekistan gearbeitet, in Bosnien und dem Südkaukasus. Im Libanon betreut er 300 Mitarbeiter. World Vision ist seit 1975 im Libanon tätig. Lokale Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bezeichnen die Katastrophe als eines der "schwierigsten Ereignisse, mit denen das Land je zu kämpfen hatte". 

SPIEGEL: Die Explosionen haben den Haupthafen des Landes in Schutt und Asche gelegt. Was bedeutet das für den Import von Nahrungsmittel und Hilfsgütern?

Bederski: Die Lagerstätten im Hafen sind zerstört und die Getreide dort sind verbrannt. Der Libanon ist abhängig von Lebensmittelimporten. Das Land führt bis zu 80 Prozent seines Bedarfs ein - Linsen, Trockenfrüchte, Öl, sogar die Kichererbsen für Hummus kommen aus Russland und Kanada. Die lokale Weizenproduktion deckt zehn Prozent des nationalen Konsums. Durch den zerstörten Hafen wird es starke Einschränkungen geben.

SPIEGEL: Die Regierung hat bereits angekündigt, dass sie den zweiten Hafen im Libanon funktionsfähig machen will. Importeure befürchten aber, dass es zu massiven Problemen bei den Lieferketten kommen wird.

Bederski: Der genannte Hafen liegt an der Grenze zu Syrien in der Stadt Tripoli. Aber er hat nur eine kleine Kapazität. Es wird Monate dauern, ihn so funktionsfähig zu machen, dass ausreichend Lebensmittel durchkommen können. Die gesamte Importinfrastruktur muss neu aufgebaut werden.

Zerstörtes Getreidesilo im Hafen von Beirut: Nahrung für 6,8 Millionen Menschen im Land

Zerstörtes Getreidesilo im Hafen von Beirut: Nahrung für 6,8 Millionen Menschen im Land

Foto: STR/ AFP

SPIEGEL: In welcher Lage hat die Katastrophe den Libanon getroffen?

Bederski: Der Libanon  leidet seit Jahrzehnten unter Korruption. Nach dem Bürgerkrieg blieb die ethnische Identifizierung lange wichtiger als das Vorankommen des Landes. Seit Oktober 2019 haben wir eine Revolution miterlebt, die einen Regierungswechsel brachte. Kurz danach traf die finanzielle Krise das Land. Die Arbeitslosigkeit stieg, und auch die Lebenskosten. Dann kam die Pandemie. Die Einnahmen der Bürger haben sich auf ein Drittel ihres vorherigen Wertes reduziert. Und wir blicken harten Zeiten entgegen.

SPIEGEL: Schon heute sterben Kinder an Hunger, Medikamente fehlen. Es gibt kaum noch Strom. Was wird sich noch ändern?

Bederski: Viele Menschen werden anders essen. Sie werden entweder eine Mahlzeit auslassen oder ihre Mahlzeiten anders zusammenstellen - etwa Obst und Gemüse essen, das im Land angebaut wird, und es mit subventionierten Produkten auf Getreidebasis kombinieren. Bei vielen wird sich die Qualität der Nahrung verschlechtern. Die Regierung hat angekündigt, dass sie die Mehlverkäufe einschränken wird und ab sofort nur Bäckereien Zugang zu Mehl bekommen. Für den Haushalt werden wir in naher Zukunft kein Mehl mehr haben.

SPIEGEL: Was muss man wissen, wenn man im Libanon einkaufen geht?

Bederski: Zwei Dinge: Alle Mehl- und Getreideprodukte sind preislich stabil und günstig, weil sie von der Regierung subventioniert werden - aber auch sie werden importiert. Die Preise für alle anderen Importe werden durch den Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt reguliert und sind extrem gestiegen. Eine Flasche Öl, die Anfang des Jahres noch 1000 libanesische Pfund gekostet hat, kaufen wir jetzt für 5000 libanesische Pfund. Ein Becher Joghurt, der Labneh-Joghurt, den man hier so gern isst, kostete damals bei 2600 Pfund, heute kaufen wir es für 8000 Pfund - das sind rund 4,50 Euro.

SPIEGEL: Kann der Libanon selbst Landwirtschaft betreiben?

Bederski: Die landwirtschaftliche Gegend liegt im östlichen Teil des Landes, die Bekaa-Ebene ist eigentlich eine sehr fruchtbare Gegend. Nur haben sich dort die meisten syrischen Flüchtlinge angesiedelt. Selbst wenn das Land auf Selbstversorgung umspringen wollte, ginge das nicht so leicht.

SPIEGEL: Im Libanon leben rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, bezogen auf die Einwohnerzahl sind das mehr als in jedem anderen Land der Erde. Wie ist die Lage für diese besonders schutzbedürftige Gruppe?

Bederski: Offiziell dürfen syrische Flüchtlinge keine Arbeit annehmen - es sei denn in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder bei der Abfallentsorgung. Die meisten hatten bereits vor Corona, vor den jüngsten Explosionen keinen Job. Was diese Menschen am härtesten trifft, sind die steigenden Lebenshaltungskosten. Die meisten Familien leihen sich Geld, um über die Runden zu kommen. Sie sind im Durchschnitt mit 300 bis 800 US-Dollar verschuldet. Das wird noch steigen.

SPIEGEL: Welchen Einfluss hat der Niedergang des Libanon auf das Nachbarland Syrien?

Bederski: Syrien ist zum Großteil sanktioniert. Alle Bankangelegenheiten und der Transfer von Geldern nach Syrien liefen über den Libanon. Der finanzielle Sektor leidet daher stark unter unserer Krise. Hilfsorganisationen, die in Syrien arbeiten, haben ihre Güter zum Teil über den Hafen in Beirut bezogen. Öl und Sprit fließen durch den Libanon. Durch die Explosionen wird sich die Versorgungslage in Syrien verschlechtern.

SPIEGEL: Die Weltbank schätzt, dass jeder zweite Bewohner des Libanon bis Ende des Jahres unterhalb der Armutsgrenze leben wird. Experten gehen davon aus, dass drei Viertel der Bevölkerung Ende 2020 von Lebensmittelspenden abhängen werden. Wie erleben Sie die libanesische Gesellschaft?

Bederski: Einmal ist da die Resignation. Viele denken an die Revolution im Oktober letzten Jahres zurück. Sie erinnern sich an den Zusammenhalt, an den vollzogenen Regierungswechsel. Jetzt spüren sie, dass Korruption weiter besteht, was ein Ohnmachtsgefühl auslöst. Auf der anderen Seite haben die Menschen keine Kraft mehr, sich zu überlegen, wie sie Korruption vernichten können. Sie machen sich nur noch Gedanken über ihre nächste Mahlzeit.

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