Lokman Slim im Libanon ermordet Der Furchtlose

Ein furchtloser Mensch: Lokman Slim
Foto: Nabil Mounzer / EPA-EFEVor Jahren saßen wir gemeinsam bei einer Podiumsdiskussion in Beirut auf der Bühne, als der Strom ausfiel. Lokman Slim sprach einfach weiter, sein vibrierender Bass füllte mühelos den vollbesetzten Saal. Es war die Stimme eines Furchtlosen.
Der wortmächtige Autor, Regisseur und Verleger wagte es immer wieder, die übermächtige Milizpartei der Hisbollah zu kritisieren für ihre Machtbesessenheit, sich als Vollstrecker göttlichen Willens aufzuführen. Das tun auch andere. Aber von denen wohnt niemand mitten in Südbeirut, der Hochburg der Hisbollah. Ich solle mir keine Sorgen machen um Wertsachen im Auto, sagte Lokman Slim beim Besuch des Familiensitzes: Sein Haus werde ja rund um die Uhr bewacht.
In der Nacht zum Donnerstag wurde diese Stimme des friedlichen Aufbegehrens zum Verstummen gebracht. Auf dem Rückweg nach Beirut im Auto trafen mehrere Schüsse Lokman Slim tödlich. Er hatte einen Freund im Süden des Landes besucht, war am Abend aufgebrochen und verschwunden. Schon in der Nacht begann die Suche nach ihm, bis am Donnerstagmorgen sein Wagen nahe der Stadt Nabatiya gefunden wurde. Die Nachricht seiner Ermordung verbreitete sich rasend im Land und weltweit.
Wer geschossen hat, wird vermutlich nie ermittelt werden. Aber wer das Klima geschaffen hat, dass auch jenseits eines Mordbefehls aus der Zentrale sich die Parteigänger und Jünger der Hisbollah berufen fühlten, diesen weltweit gehörten Kritiker aus der eigenen Nachbarschaft und der gemeinsamen schiitischen Glaubensheimat umzubringen, könnte klarer kaum sein.
Minuten nach den ersten Nachrichten vom Mord twitterte Dschawad Nasrallah, der Sohn des Hisbollah-Generalsekretärs: »Was für manche Leute ein Verlust bedeutet, ist in Wirklichkeit ein Gewinn und eine unerwartete Güte«, dahinter der Hashtag: »#Keine Reue«. Später löschte Nasrallah den Tweet wieder, erklärte, er habe doch gar nicht Lokman Slim gemeint.
Massive Drohungen von der Hisbollah
Als Slim sich Ende 2019 an den Protesten gegen das Machtkartell der herrschenden Parteien beteiligte, wurden die Drohungen ihm gegenüber rabiater. Schlägertrupps der Hisbollah schlugen Demonstranten zusammen, brannten das Zelt einer geplanten Veranstaltung nieder.
Die Redensart, dass jemand seine Wände mit Morddrohungen tapezieren könne, traf auf Lokman Slim wörtlich zu: Über mehrere Quadratmeter plakatierten Hisbollah-Anhänger seine Grundstücksmauer mit ausgedruckten Verwünschungen und Drohungen, dass er bald an der Reihe sei, auf dem Müllhaufen der Geschichte landen werde und nichts als ein »israelischer Agent«, Teil der »zionistischen Verschwörung« sei.
Die Hetzer hätten ferner der Realität kaum liegen können. Was der 58-Jährige gemeinsam mit seiner deutschen Frau Monika Borgmann aufbaute, war weit mehr als Kritik an einer einzelnen Partei und schon gar nicht Lobbyismus für den südlichen Nachbarn.
Mit Kultur gegen Tabus
Weltweit bekannt geworden war das Autoren- und Regisseurs-Duo 2005 mit dem düsteren, grandiosen Dokumentarfilm »Massaker«, für den sie es geschafft hatten, sechs der Beteiligten am Massenmord an palästinensischen Zivilisten in den Beiruter Lagern Sabra und Schhatila 1982 erstmals zum Sprechen zu bringen: In überheizten, kargen Räumen sprachen die Männer, deren Gesichter nicht gezeigt wurden, über Lakonie und Grausamkeit. Darüber, dass das Morden damals ihr Beruf gewesen, sie Angehörige der »Falangisten« gewesen seien, einer der libanesischen Bürgerkriegsmilizen, die mit Israel verbündet war. Dass nur der gelernte Metzger unter ihnen Freude am Abschlachten von mehr als tausend Zivilisten gehabt habe. Darüber, wie frustriert sie waren, als israelische Offiziere ihnen im Trainingslager nur Holocaust-Dokumentationen, aber nicht mal einen Porno gezeigt hatten.
2016 brachten Slim und Borgmann ehemalige libanesische Gefangene des syrischen Horrorgefängnisses von Tadmor zusammen, die erst in einem Theaterstück, dann im Dokumentarfilm »Tadmor« in einem atemberaubenden Re-Enactment die Jahre des Grauens noch einmal aufführten, mit beklemmender Authentizität die Rollen der Opfer und Täter auf die Bühne brachten.
Zu einer der ersten Aufführungen in Beirut kamen schiitische Kleriker, in vollem Ornat mit Turban und Robe, um öffentlich ein Zeichen zu setzen, dass nicht alle Schiiten und ihr religiöses Establishment Parteigänger der Hisbollah waren. Mit dem Theaterstück kamen Slim und Borgmann nach Berlin, mit dem Film nach Hamburg, in die Schweiz zu Festivals. Aber die größten Erschütterungen lösten sie regelmäßig im Libanon selbst aus, indem sie all die Tabus und Traumata des Bürgerkriegs, der syrischen Besatzung und ihrer libanesischen Helfershelfer, öffentlich machten.
Abkömmling einer alteingesessenen schiitischen Familie
Die Libanesen seien wie Gefängnisinsassen eingesperrt in den Zellen ihrer Konfessionsgruppen und deren Anführern, sagte Lokman Slim auf einer der Demonstrationen Ende 2019, bevor die Pandemie das öffentliche Aufbegehren abschnürte. Dass er als Abkömmling einer alteingesessenen schiitischen Familie nicht reflexhaft die anderen beschuldigte, sondern sich mit den waffenstarrenden Herrschern der eigenen Konfession anlegte, gab ihm Glaubwürdigkeit und brachte ihn in stete Gefahr.
Slim selbst hat selten über die Drohungen gegen ihn gesprochen, erst Ende 2019 nach der anhaltenden Kampagne, ging er damit an die Öffentlichkeit: »Genug ist genug! Wenn die Hisbollah glaubt, dass sie uns damit zum Schweigen bringen kann, irrt sie.«
»Selbst, wenn es wirklich eine Revolution im Libanon geben sollte, wäre noch gar nichts gewonnen«
Als er in den Donnerstagnachtstunden noch vermisst war, diskutierten Freunde und Weggefährten in banger Hoffnung, ob er vielleicht nur entführt worden sei, um ihn zu verängstigen. Die Option wurde rasch wieder verworfen, weil allen klar war, dass er kaum zu verängstigen sei.
Nicht eifernd, meist mit einem spöttischen Zug in den Mundwinkeln, hat er immer wieder eine Normalität gefordert, die im Libanon Lichtjahre entfernt erscheint: »Selbst, wenn es wirklich eine Revolution im Libanon geben sollte, wäre noch gar nichts gewonnen«, schrieb er einmal: »Es ist erst alles gut, wenn ich mich abends ins Auto setzen, nach Haifa oder Damaskus fahren kann, um ein Bier zu trinken und dann wieder zurückkommen kann.«
Nun ist er nicht einmal von einer Fahrt durchs eigene Land zurückgekommen. Die Stimme der Vernunft, die mit Drohungen nie zu bändigen war, wurde mit einem Mord zum Schweigen gebracht. Für die Mörder mag es ein Sieg sein, für den Libanon ist es ein weiterer Schritt zum Selbstmord.