Notversorgung britischer Kinder Hunger, mitten in Europa

Ausgabe der »School Food Matters«-Frühstücksboxen
Foto: Adrian Pope / School Food Matters
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Kommende Woche beginnen in Großbritannien die Weihnachtsferien. Die zwei Wochen bedeuten für viele Kinder: kein Unterricht, kein Pausenhof, keine Schuluniform – aber bei vielen auch die Angst, zu Hause nicht genug zu essen zu bekommen.
In Großbritannien stehen knapp 1,5 Millionen Kindern kostenlose Mittagessen in Schulen zu. Außerdem frühstücken viele Kinder vor dem Unterricht oft gemeinsam in kostenlosen »Breakfast Clubs«. Doch während der Pandemie hat sich die Lage verschärft. Im Mai lebten 2,4 Millionen Kinder in Großbritannien in Haushalten, die sich nicht ausreichend ernähren konnten, so das Ergebnis einer Umfrage im Auftrag der NGO Food Foundation. Im Oktober wurden knapp 900.000 weitere Schüler für die kostenlosen Schulmahlzeiten registriert.

Schüler bekommen Mittagessen in der »Salusbury«-Grundschule
Foto: Suzanne Plunkett / REUTERS»Was Kinder betrifft, ist die Pandemie die drängendste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg«, gab Unicef bekannt. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Uno) arbeitet meist in Entwicklungsländern.
Doch zum ersten Mal in seiner 74-jährigen Geschichte hat Unicef einen Notfallplan in Großbritannien umgesetzt – der, am Bruttoinlandsprodukt gemessen, sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt. »In dieser noch nie dagewesenen Situation gibt es den Bedarf, sich um Kinder und Familien in Großbritannien zu kümmern«, schreibt das Kinderhilfswerk auf Anfrage. Umgerechnet 774.000 Euro haben Unicef und ein weiterer Partner an insgesamt 30 lokale Projekte verteilt.

Frühstücksboxen mit Milch, Obst und Müsli
Foto: Adrian Pope / School Food MattersDie NGO »School Food Matters« etwa erhielt umgerechnet knapp 27.700 Euro. Davon stellt sie knapp 20.000 Frühstücksboxen mit Milch, Obst und Müsli zusammen, die während der Weihnachts- und der Schulferien im Februar von Schulen in den Südlondoner Bezirken Southwark und Lambeth verteilt werden sollen. Schon im Sommer hatte die NGO 18 Wochen lang nach eigenen Angaben eine halbe Million Frühstücke von Schulen ausgeben lassen, finanziert von einer Charity-Organisation.
Als Stephanie Slater 2007 »School Food Matters« gründete, ging es ihr um gesundes Essen. In den vergangenen 13 Jahren aber habe es sich mehr in Richtung Adipositas bei Kindern gewendet und fehlende Mahlzeiten – beides Indikatoren für Armut, erzählt sie.
Auch die Umfrage von Food Foundation vom April zeigt: Knapp 200.000 Kinder mussten Mahlzeiten auslassen, weil ihre Familie sich nicht genügend Lebensmittel leisten konnte. Und fast ein Drittel der Kinder, denen kostenloses Schulessen zusteht, haben zu Beginn der Coronakrise keinen Ersatz bekommen.

Stephanie Slater
Foto: Adrian Pope / School Food Matters»Die Pandemie hat vor allem bestehende Probleme verstärkt«, sagt Slater. Eigentlich müssten ohnehin viel mehr Schüler die kostenlosen Mahlzeiten erhalten, findet sie. »Und die Wurzel all dieser Probleme ist ganz klar Armut.«
Dies kritisieren Experten schon lange. Vor knapp zwei Jahren fuhr Philip Alston, Uno-Sonderberichterstatter für extreme Armut zwei Wochen und knapp 2000 Meilen durch die ärmsten Distrikte Großbritanniens. In seinem Abschlussbericht, den er vergangenes Jahr veröffentlichte , kritisiert Alston die 2010 von der konservativen Regierung eingeführte Austeritätspolitik und seine »tragischen Folgen für die Gesellschaft«: »Die Quintessenz: Der Kitt, der die britische Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg zusammengehalten hat, wurde großflächig absichtlich entfernt und durch ein kaltes, gefühlloses Ethos ersetzt.«
Die Regierung des Premierministers David Cameron hatte 2010 die Sozialausgaben drastisch gekürzt, um das Haushaltsdefizit aus der Finanzkrise abzufedern. Die umgerechnet mehr als 33 Milliarden Euro Einsparungen trafen zum Beispiel Distrikte, Polizeistationen und Sozialeinrichtungen. Bibliotheken und Jugendzentren mussten schließen.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Lebensmitteltafeln im Land vervielfacht, immer mehr Familien wurden obdachlos. Im Februar veröffentlichte das Institute of Health Equity des University College London eine Studie, wonach die Lebenserwartung in Großbritannien zum ersten Mal seit 100 Jahren nicht gestiegen ist – ein Indikator, dass es dem Land nicht gut gehe.
Doch während der Pandemie zeigt sich in Großbritannien auch eine große Anteilnahme der Bevölkerung. Als die konservative Regierung von Boris Johnson ankündigte, die kostenlosen Schulessen während der Herbstferien nicht weiter auszugeben, gab es einen öffentlichen Aufschrei.
Mehr als eine Million Menschen unterschrieben eine Petition des Manchester-United-Fußballers Marcus Rashford. Dieser hatte sich schon für die Schulessen im Sommer eingesetzt und forderte, sie erneut zu verlängern. Restaurants, Bars, Märkte und Cafés boten kostenlose Mahlzeiten für Schüler und Kinder an. »Ich verstehe das Problem mit Hunger in den Ferien. Die Frage aber ist, wie man damit umgeht«, sagte Boris Johnson der BBC im Oktober. Der Premier verwies auf die 20 Pfund (rund 22 Euro) mehr Sozialleistungen pro Woche, die bedürftige Familien seit April erhalten.

Ein Küchenchef vom »The Meating Room«-Restaurant bereitet warme Speisen für Familien zu, die auf kostenlose Schulmahlzeiten angewiesen sind
Foto: Paul Childs / REUTERSWegen der Petition des 23-jährigen Stürmers Rashford, der selbst mit kostenlosen Mahlzeiten und Besuchen bei der Tafel aufgewachsen ist, führte die Regierung Anfang November weitere Maßnahmen an: Etwa den sogenannten Covid Winter Plan, der Familien, Kinder und Bedürftige schützen soll. Zudem soll für die Oster-, Sommer- und Weihnachtsferien 2021 das Schul-Essensprogramm weiterlaufen.
Ab Mittwoch mussten die Restaurants in London wegen der Pandemie erneut schließen. Auch deswegen klingeln bei Stephanie Slater und ihrem 13-köpfigen Team die Telefone durchgehend. Gerade hätten Mitarbeiter eines großen Hotels angerufen, die Tonnen von frischen Lebensmitteln vergeben wollten. Diese würden sie weiterleiten, sie seien keine Tafel.
»So viele Menschen sind und waren solidarisch«, sagt Slater. »Aber das sind alles nur Ad-hoc-Pläne. Wir brauchen eine langfristige Lösung.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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