
Edel Rodriguez / DER SPIEGEL

Die Lage: USA 2021 Protestshow für Trumps Topfans

Liebe Leserin, lieber Leser,
heute beschäftigen wir uns mit Mike Pences unerwarteter Schicksalsstunde, Donald Trumps Wut – und der Angst Washingtons vor einem inszenierten Putsch.
Armer Mike Pence. Vier Jahre lang hat der US-Vizepräsident seinem Chef Donald Trump die Treue gehalten. Hat mit Demutsmiene hinter ihm gestanden, hat ihm inbrünstig applaudiert, hat, so schien es, selbst den Gang der Sonne »seiner Führungskraft« zugeschrieben.
Alles nur, um sich Trumps Gnade und sein Erbe zu wahren. Will heißen: den eigenen Traum für 2024 – das Weiße Haus.
Dazu musste sich Pence verbiegen, einiges verleugnen und viel verkneifen. Seine konventionelle Karriere vor Trump ist lange vergessen, sein Rückgrat zerbrochen unter dem täglichen Bückling. Selbst die Leitung der Corona-Taskforce machte Pence zum Kotau vor dem Pandemieleugner-in-Chief.
Doch nun, fast am Ziel, droht die ganze Aufopferung umsonst gewesen zu sein. Frohes neues Jahr, Michael Richard Pence!

Schluss mit lustig: Donald Trump und Noch-Vize Mike Pence (2016)
Foto: MIKE SEGAR/ REUTERSDenn an diesem Mittwoch steht Pence vor seiner unmöglichsten Aufgabe. Da er kraft Amtes zugleich als Präsident des US-Senats fungiert, muss er die zeremonielle Gemeinschaftssitzung beider Kongresskammern leiten, bei der das Wahlergebnis vom November offiziell gemacht wird – sprich: Trumps Niederlage. Die steht schließlich längst fest : Biden hat 306 Wahlleute gewonnen, Trump 232.
Es ist also eine reine Formalie – doch eine mit Folgen, vor allem für Pence. Denn wie alles zerstört Trump auch diese, in der Verfassung verankerte, Tradition. Der Festakt der Demokratie wird zur Protestshow für Trumps Topfans. Denen flüstert der scheidende Präsident ein, dass Pence und der Kongress sein Schicksal als Wahlverlierer doch noch drehen könnten – eine Fantasie, die er inzwischen offenbar selbst glaubt.
»Der Vizepräsident hat die Macht, betrügerisch bestimmte Wahlleute abzulehnen«, twitterte Trump am Dienstag.
Doch erstens hat er diese Macht nicht, zweitens sind alle Wahlleute von den Staaten beglaubigt und gerichtlich bestätigt, da ist nichts betrügerisch. Trotzdem tönte Trump: »Ich hoffe, Mike Pence steht für uns ein.«
The Vice President has the power to reject fraudulently chosen electors.
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) January 5, 2021
»Die Wähler haben Joe Biden und Kamala Harris als nächsten Präsidenten und nächste Vizepräsidentin bestimmt«, stellt die unabhängige Expertengruppe Voter Protection Program klar. »Am 6. Januar mag es zwar Schall und Rauch geben, aber das wird am Ausgang nichts ändern.«
Und doch, eine No-Win-Situation von Shakespeare'scher Tragik für den Jasager, der zum bitteren Ende schweigen muss. Denn hier handelt es sich nicht um das politische Pendant von »Sophies Entscheidung« , wie die »New York Times« findet . Nein, Pence hat keine Entweder-oder-Option, er ist nicht mehr als der Verkünder des Oscars für besten Wahlkämpfer. Er muss tun, was die Verfassung vorschreibt – was ihm den ewigen Zorn von Trump und dessen Fußsoldaten garantieren dürfte.
Heiße Gerüchteküche
Pence wird lernen, was zuvor so viele lernen durften: Loyalität zu Donald Trump ist eine Einbahnstraße – und obendrein eine unbeleuchtete Sackgasse, es gibt keine Wendemöglichkeit.
Die Gerüchteküche kocht über. Bei einem Lunch im Weißen Haus soll Pence Trump vorsichtig zu erklären versucht haben , dass er das Ergebnis nicht beeinflussen könne. Trump dementierte prompt: »Fake News.« Das Kongressmagazin »Roll Call« twitterte , Pence wolle die Sitzung schwänzen und den schwarzen Peter dem nächsten in der Hackordnung überlassen, dem republikanischen Senator Chuck Grassley, 87. Auch das dementierten beide Büros.
Der Ablauf des Tages ist dreifach festgeschrieben: in Artikel II der Verfassung, im zwölften Verfassungszusatz und im Electoral Count Act von 1876 – einem Gesetz, das erlassen wurde, um genau das Chaos zu verhindern, das Trump jetzt anstiftet. Senat und Repräsentantenhaus treten um 13 Uhr Ortszeit zusammen, der Vizepräsident öffnet die Umschläge, in denen sich die – vorbestimmten – Wahlleutestimmen aus den Bundesstaaten befinden, er verliest die – vorbestimmten – Zahlen, und er moderiert eventuelle »Einsprüche«. And the Oscar goes to...

Formalie mit Folgen: US-Kapitol
Foto: Zach Gibson/ AFPGenau da wittern Trumps Schergen – wider besseres Wissen – einen Schwachpunkt. Mehr als 140 republikanische Abgeordnete wollen im Namen Trumps die Wahlergebnisse in mindestens drei Swing States anfechten, unter Berufung auf unbewiesenen »Wahlbetrug«. Dazu brauchen sie nur einen Senator pro Staat, der mitzieht, dann kann jeder Einspruch bis zu zwei Stunden lang debattiert werden. Gut ein Dutzend republikanische Senatoren haben sich bisher dazu bereit erklärt. Trumps Bannstrahl blendet auch nach dem Wahlverlust noch.
»Möge Gott unseren neuen Präsidenten segnen«
Am Endergebnis wird das nichts ändern: Ein Einspruch hat nur Erfolg, wenn beide Kammern zustimmen, was unwahrscheinlich ist. Stattdessen spaltet der Stunt die Republikaner in pro und anti Trump. Besser gesagt: in pro und anti Demokratie.
Es ist ein ultimativer Teufelspakt: Wer Sand ins Getriebe der Demokratie streut, hat die besten Chancen auf eine politische Zukunft. Wer dagegen der Verfassung folgt, dessen Hoffnungen auf Erfolg könnten zerstört werden von Trump und seiner Basis.
In meiner Zeit hier in den USA habe ich über fünf Präsidentschaftswahlen berichtet und fünfmal erlebt, wie der Kongress die Mehrheit des Electoral College zertifizierte. Nie gab es Probleme. Einsprüche, ja, doch sie waren pro forma und folgenlos.
Als Al Gore vor 20 Jahren die Wahl gegen George W. Bush verlor – auf Grundlage eines bis heute kontroversen Urteils des Supreme Courts – musste er als noch amtierender Vizepräsident seine eigene Niederlage verlesen. Er tat es mit Würde und Humor, trotz der Einwände seiner eigenen Parteikollegen, die er einen nach dem anderen ablehnte: »Möge Gott unseren neuen Präsidenten segnen«, sagte er .
Massenproteste gegen die Demokratie
Doch auch auf den Straßen rund um das US-Kapitol herrscht an diesem Tag Ausnahmezustand: Zehntausende Trump-Fans, allen voran die rechtsextremen »Proud Boys«, haben sich angesagt, um das Prozedere zu stören, mit Protestmärschen und Kundgebungen am Kongress, auf der National Mall und an anderen Orten.
Unter den geplanten Rednern sind notorische Trump-Vasallen, QAnon-Krämer und andere Sumpfgestalten: Rudy Giuliani, Roger Stone, Alex Jones, »Kissenkönig« Mike Lindell und weitere, die kürzlich von Trump begnadigt wurden. Trump selbst will bei einer Veranstaltung am Weißen Haus persönlich auftreten . Bei ähnlichen Protesten Mitte Dezember schwebte er im Helikopter über der Menge.

Trump ist ihr Idol: »Proud Boys« im Dezember
Foto: Allison Dinner / imago images/ZUMA WireTrump hat sich »wilde« Proteste gewünscht. In den von Konservativen bevölkerten Netzwerken Parler und Telegram gilt das als »Marschbefehl«: Dort werde debattiert, wie man Schusswaffen einschmuggeln könne, die im Zentrum der Hauptstadt verboten sind, berichtet die »Washington Post«. Ein Nutzer habe geschrieben: »Ja, so was ist illegal, aber es herrscht Krieg, und wir sind eindeutig in der postlegalen Phase unserer Gesellschaft.«
I am asking Washingtonians and those who live in the region to stay out of the downtown area on Tuesday and Wednesday and not to engage with demonstrators who come to our city seeking confrontation, and we will do what we must to ensure all who attend remain peaceful.
— Mayor Muriel Bowser (@MayorBowser) January 4, 2021
Das Pentagon hat mehr als 300 Nationalgardisten mobilisiert . Das Hotel Harrington, eine bevorzugte Absteige der »Proud Boys«, schloss vorsichtshalber – aus »Sorge um die Gesundheit und Sicherheit aller«.
Manche fürchten dennoch, dass die »Proud Boys« Unruhen provozieren und Trump damit einen Vorwand liefern könnten für einen größeren Einsatz des Militärs, wenn nicht die Ausrufung des Kriegsrechts. Diese Angst las sich auch zwischen den Zeilen eines Appells von zehn früheren US-Verteidigungsministern, die dazu aufriefen, Soldaten bloß in der Kaserne zu lassen. Allein dieser offene Brief offenbart den Ernst der Lage.
Trumps rechtsextreme Krieger
Doch Trump inszeniert die Konfrontation – indem er der anderen Seite schon vorab Gewalt unterstellt. »Antifa-Aktivisten« würden ab sofort als »Terroristen« verfolgt, teilte das Weiße Haus am Dienstagabend mit. »Haltet euch von Washington fern«, twitterte Trump später an die Adresse möglicher Gegendemonstranten.
Dabei sind es ja gerade seine Anhänger, die einschlägig auffallen. Henry »Enrique« Tarrio, der Anführer der »Proud Boys«, wurde am Montag festgenommen und tags darauf von einem Gericht bis Juni aus Washington verbannt. Er hat gestanden, bei den Dezemberdemos, die in nächtliche Unruhen mündeten, ein Black-Lives-Matter-Plakat an einer historischen schwarzen Kirche angezündet zu haben.

Aus Washington verbannt: »Proud Boy«-Anführer Henry »Enrique« Tarrio
Foto: Allison Dinner / APTarrio, 36, bündelt die Widersprüche der rechten Trump-Szene. Er wurde in Little Havana geboren, der Exilkubaner-Enklave von Miami, ist mit Roger Stone befreundet und wegen Hehlerei vorbestraft. Als Stabschef der »Latinos for Trump« hat er geholfen, die »Proud Boys« zur landesweiten Trump-Armee zu machen. 2017 nahm er an den Neonazi-Aufmärschen in Charlottesville teil. Im Dezember postete er auf Parler stolz ein Selfie aus dem Weißen Haus: »Last-Minute-Einladung.«
Nach Informationen von »Slate« steht Tarrio auch hinter der Website »1776 Shop« (nach dem Gründungsjahr der USA). Dort gibt es einschlägige Waren zu kaufen wie T-Shirts mit dem Aufdruck »Death to Antifa« und »Kyle Rittenhouse hat nichts falsch gemacht« . Rittenhouse, damals 17, hatte im Sommer bei Black-Lives-Matter-Protesten in Wisconsin zwei Demonstranten erschossen und ist wegen Mordes angeklagt.
Viele von Trumps Anhängern sind bis heute überzeugt davon, dass er die Wahl gewonnen hat. Der nährt den Irrglauben, assistiert von rechter und radikaler Medienpropaganda. Kein Zufall, dass Kamala Harris am Dienstag ein Zitat des verstorbenen Bürgerrechtlers und demokratischen Kongressabgeordneten John Lewis postete : »Demokratie ist kein Zustand. Sie ist eine Handlung, und jede Generation muss ihren Teil beitragen.«
In the words of Georgia's John Lewis, “Democracy is not a state. It is an act, and each generation must do its part.”
— Vice President Kamala Harris (@VP) January 5, 2021
Midnight Train to Georgia
In der Nacht kamen die Ergebnisse der bitter umkämpften Stichwahlen in Georgia. Demnach könnten die Republikaner ihre Blockademehrheit im US-Senat verlieren, wiewohl hauchdünn. Nachzählungen sind wahrscheinlich, doch es wäre ein sensationeller, wichtiger Sieg, der Trumps Laune nicht heben dürfte: Biden hätte für mindestens zwei Jahre weitgehend freie Hand.
Es dauerte nicht lange, bis Trump, der noch zuletzt in Georgia Wahlkampf gemacht hatte, auch hier Betrug schrie. Doch genau solche Tiraden waren mit ein Grund für die Verluste der Republikaner – eine Lehre, an die sie sich an diesem Mittwoch im Kongress erinnern sollten.
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