Umzingelte ukrainische Metropole Die Gräueltaten von Mariupol

In Mariupol gibt es seit Tagen weder Wasser noch Strom. Die Stadt wird immer wieder schwer bombardiert – am Mittwoch auch eine Geburtsklinik. Augenzeugenberichte liefern dramatische Einblicke in die umzingelte Küstenmetropole.
Helfer tragen eine schwangere Frau vom Gelände der bombardierten Geburtsklinik in Mariupol

Helfer tragen eine schwangere Frau vom Gelände der bombardierten Geburtsklinik in Mariupol

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Evgeniy Maloletka / AP

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Die Bilder erzählen von beispiellosen Gräueln mitten im Europa des 21. Jahrhunderts: Sie stammen aus Mariupol, einer von russischen Truppen eingekreisten und beschossenen Stadt. Es sind Schreckensbilder aus einer Metropole ohne Stromversorgung und Wasser, ohne funktionierenden Kontakt zur Außenwelt und ohne ausreichend Nahrungsmittel.

Zerstörter Wohnblock in Mariupol

Zerstörter Wohnblock in Mariupol

Foto: Evgeniy Maloletka / AP

Mariupol liegt am Asowschen Meer, die Stadt ist von russischen Truppen aus zwei Seiten eingekreist: von jenen, die von der Krim her ins Land eingefallen sind, und von jenen, die an der bestehenden Frontlinie mit den prorussischen Separatisten vorgerückt sind. Seit Tagen herrscht eine humanitäre Krise in der ehemals 440.000 Einwohner starken Stadt, es herrscht Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln.

Alle Versuche, die Zivilisten aus der Stadt zu evakuieren, sind bisher gescheitert – trotz russischer Ankündigungen, Fluchtkorridore schaffen zu wollen und die Lieferung von Essen und Medizin in die Stadt zu erlauben. Am Dienstag war ein humanitärer Konvoi nach Aussagen ukrainischer Stellen von Russen beschossen worden, bevor er die Stadt erreichte; der Versuch musste abgebrochen werden.

Ein Mädchen harrt am Montag in einem improvisierten Bunker in Mariupol aus

Ein Mädchen harrt am Montag in einem improvisierten Bunker in Mariupol aus

Foto: Evgeniy Maloletka / AP

Eine Ahnung von den tatsächlichen Zuständen in Mariupol vermittelt der AP-Fotograf Mstyslav Chernov, der unermüdlich vor Ort ausharrt. Auf seinen Bildern zu sehen sind Leichen, die auf den Straßen liegen, ohne dass jemand sich darum kümmern könnte. Menschen bewegen sich inmitten von Trümmerhalden.

Chernov berichtet, stellvertretend für viele andere Opfer, vom Schicksal eines Mädchens, das Ärzte in einem Krankenhaus der Stadt – vergeblich – wiederzubeleben versuchten.

»Zeigen Sie das Putin«

»Auf ihrer blutigen Schlafanzughose waren Einhörner abgebildet, wie wir sie aus Comics kennen«, erzählt der Fotograf. Ärzte hätten versucht, das Kind mit Herzmassage und Defibrillator zurück ins Leben zu holen, während eine Krankenschwester in Tränen ausbrach und der schwer verwundete Vater parallel versorgt wurde. »Zeigen Sie das Putin«, schreit einer der Helfer in die Kamera, »die Augen dieses Kindes und weinende Ärzte.« Wenig später schließt einer der Mediziner dem toten Mädchen in der bunten Polyesterjacke, in der es eingeliefert wurde, die Augen – für immer.

Mariupol am Asowschen Meer darf sich seit Sonntag »gorod geroi« nennen – Heldenstadt. Der Ehrentitel, verliehen durch den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, erinnert an ruhmreiche Städte wie Leningrad und Stalingrad, die während der Sowjetzeit für den Widerstand ihrer Bürger und Bürgerinnen im Zweiten Weltkrieg geehrt wurden.

Mariupol allerdings kann sich für diese Auszeichnung nichts kaufen. Der stellvertretende Bürgermeister Serhyi Orlow richtet am Mittwochnachmittag in einer Schalte mit Journalisten einen dramatischen Appell an die Weltgemeinschaft: »Was hier passiert, ist reiner Völkermord; wir werden mit jeder denkbaren Form von Waffen beschossen. Wenn unsere Männer ausrücken, um kaputte Stromleitungen zu reparieren, werden sie gezielt mit Stalinorgeln bombardiert. In Mariupol gibt es inzwischen 1170 tote Zivilisten, allein 47 davon haben wir heute begraben; wir Überlebenden schmelzen Schnee, um an Trinkwasser zu kommen.«

Metropole ohne Wasser und Strom

Orlow, ein hagerer Kerl im schwarzen Rollkragenpulli, war bei einem früheren Treffen mit dem SPIEGEL vor Kriegsausbruch noch optimistisch, was die Zukunft seiner Stadt angeht. Jetzt wirkt er, in einem Zoom-Call, wie jemand, der um Fassung und Worte ringt angesichts dessen, was sich vor seinen Augen zuträgt.

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Kontakte zu den Menschen in der von russischen Truppen eingekesselten Stadt sind auch für den SPIEGEL nur noch mühsam herzustellen. Dmitro, ein ehemaliger Einwohner, mittlerweile nach Kiew geflüchtet, sagt, er habe keinerlei Nachrichten von seinem in Mariupol verbliebenen Sohn: »Es tut so unbeschreiblich weh.« Juri, ein Kontaktmann im westukrainischen Lwiw mit guten Verbindungen in die Hafenstadt am Asowschen Meer, beschreibt die Lage so: »Die Menschen in Mariupol melden sich seit drei bis vier Tagen nicht mehr – dort sieht es nicht gut aus.«

Dramatische Augenzeugenberichte

Augenzeugenberichte wie jener des Priesters Don Pavlo, der vom italienischen kirchlichen Hilfswerk ACS zitiert wird, untermauern die schlimmsten Befürchtungen. »Mariupol gleicht Armageddon, es ist die Hölle, sagt es bitte der ganzen Welt – es ist eine Tragödie«, so der katholische Geistliche: »Man kann ohne Essen überleben, aber nicht ohne Wasser; viele Menschen haben ihre Häuser auf der Suche nach Trinkwasser verlassen und sind dabei eines brutalen Todes gestorben; sich in Mariupol ins Freie zu begeben, grenzt an Selbstmord.«

Kinder spielen in einem Bunker in Mariupol

Kinder spielen in einem Bunker in Mariupol

Foto: Evgeniy Maloletka / dpa

Die von der Stadtverwaltung verbreitete Meldung, dass ein sechsjähriges Mädchen namens Tanja verdurstet sei, nachdem ihre Mutter von Granaten zerfetzt worden war, konnte vom SPIEGEL nicht unabhängig bestätigt werden: »Mein Herz ist voller Schmerz und Hass auf die Nazis, die Mariupol belagern«, schreibt Wadim Bojtschenko, der Bürgermeister der Stadt, in der Nachrichten-App Telegram.

Geburtsklinik beschossen

Mehrere Versuche, Zivilisten auf gesicherten Wegen aus der Stadt zu schleusen, scheiterten – nach ukrainischen Angaben daran, dass die russische Seite wortbrüchig wurde und die zugesicherte Waffenruhe nicht einhielt. Staatspräsident Selenskyj, in ein olivgrünes Armeeshirt gekleidet, beschwor in einem dramatischen Video den Überlebenswillen und die Wehrhaftigkeit von Mariupol. Die Nachrichten aus der Stadt aber lassen zunächst wenig Hoffnung aufkommen.

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Am späten Mittwochnachmittag wird ein verheerender Angriff auf die Geburtsklinik Nummer 2 vermeldet – die größte Wöchnerinnenstation der Stadt. Die Bilder, die den Angriff auf das Krankenhaus belegen, sind dramatisch: Ganze Gebäudeteile sind ausgebombt, zwischen brennenden Trümmerteilen bringen sich Frauen in Sicherheit. Augenzeugen sprechen von einem russischen Luftschlag.

Häuser im Zentrum Mariupols vor und nach dem russischen Angriff
Häuser im Zentrum Mariupols vor und nach dem russischen Angriff

Häuser im Zentrum Mariupols vor und nach dem russischen Angriff

Foto: Satellite Imagery © Maxar Technologies Provided by European Space Imaging / Satellite Imagery © Maxar Technologies Provided by European Space Imaging

Der stellvertretende ukrainische Polizeichef kommentierte die Tat, der nach Kiewer Darstellung auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen, mit den Worten: »Russen, ihr werdet in der Hölle braten.« Und Präsident Selenskyj schreibt in einem Tweet, in dem er ein Video der Verwüstungen teilt: »Mariupol. Ein direkter Angriff der russischen Truppen auf die Geburtsklinik. Menschen, Kinder, liegen unter den Trümmern. Eine Gräueltat! Wie lange wird die Welt noch eine Komplizin dieses Terrors sein?«

Die Zahl der Opfer war zunächst nicht bekannt.

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