Proteste gegen Femizide in Mexiko Fátima war nicht schuld

Angehörige beweinen das Bild von Fátima, einer Siebenjährigen, die grausam ermordet wurde
Foto: Marco Ugarte/ AP
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Hunderte Menschen begleiteten den weißen Kindersarg am Mittwoch durch die Straßen von Mexiko-Stadt, mit weißen und rosa Luftballons in den Händen - der Trauerzug für Fátima war Beerdigung und Protest zugleich. Auch an der Schule zog der Marsch vorbei, an der das Mädchen zuletzt lebend gesehen wurde - bevor sie entführt, missbraucht und ihr geschundener Körper wie Müll in einer Plastiktüte weggeworfen wurde.
Die Schule haben Trauernde mit Zetteln vollgeklebt: "Fátima ist 'nicht nachts allein unterwegs gewesen'. Fátima hat sich nicht 'provokativ gekleidet', Fátima 'hat sich nicht mit ihrem Freund herumgetrieben'", heißt es etwa. "Fátima war sieben Jahre alt und wurde gefoltert, vergewaltigt und ermordet."
Es ist eine wütende Botschaft an eine Gesellschaft, die Opfer nochmals zu Opfern macht, indem sie die Schuld für die Frauenmorde bei den Getöteten sucht. Und es ist eine Botschaft an Präsident Andrés Manuel López Obrador, der keine angemessenen Antworten auf die Gewalt findet. Medien stehen ebenfalls in der Kritik, weil sie Bilder von Verbrechen und Leichen teilen - und nicht zuletzt die Justiz, weil die Täter fast immer ohne Strafe davonkommen.

"Gefoltert, vergewaltigt und ermordet": Die Familie von Fátima, als der Sarg ihres Leichnams am Elternhaus eintrifft
Foto: EDGARD GARRIDO/ REUTERSEs vergeht kaum ein Tag ohne Horrornachricht: Im ersten Quartal 2019 wurden täglich mehr als zehn Frauen getötet. Landesweit wurden im vergangenen Jahr 1.006 Morde an Frauen als sogenannte Femizide eingestuft, also als Morde an Frauen, weil sie Frauen sind - viele solcher Morde werden aber nicht erfasst. Derzeit vergeht aber auch kein Tag ohne Protestaktionen.
Die Haut abgezogen und ausgeweidet
In Mexiko-Stadt gab es zahlreiche Märsche gegen die Gewalt in der vergangenen Woche. Am 9. Februar hatte die Polizei die Leiche der 25-jährigen Ingrid Escamilla in ihrem Haus gefunden, die von ihrem Freund gefoltert und erstochen worden war. Der Mann hatte ihr Haut abgezogen und Organe entnommen - Medien veröffentlichten Fotos der verstümmelten Leiche.
Frauen und Unterstützer gingen daraufhin auf die Barrikaden, online und offline. In sozialen Netzwerken hielten sie mit positiven Bildern gegen die Fotos, die der Toten ihre Würde nahmen. Nun zirkulieren unter dem Hashtag #IngridEscamilla vor allem Blumen, Sonnenuntergänge oder Landschaftsansichten. Hunderte gingen auf die Straße, sie trommelten, trugen Blumen und Bilder mit dem Gesicht der jungen Frau und Plakate mit Schriftzügen wie: "Ich bin nicht das tote Mädchen, mein Name ist Ingrid Escamilla”.
The story of Ingrid Escamilla is outrageous not only bc she was brutally murdered by her partner, but also bc she is 1/10 feminicides committed in Mexico every day.Gruesome photos were leaked by the media.We honor her memory by posting beautiful pictures instead #IngridEscamilla pic.twitter.com/kwPV0ImFMG
— Marioca (@mariocamx) February 13, 2020
Am Valentinstag bemalten Frauen den Nationalpalast - aus Wut über die respektlose Reaktion des Präsidenten nach dem Mord. Er hatte sich in einer Pressekonferenz dagegen ausgesprochen, die Femizide zum Tagesthema zu machen und kritisiert, dass sie von bestimmten Medien und Gruppen "instrumentalisiert” werden würden. "Sie nutzen jeden Umstand aus, um Hetzkampagnen zu erzeugen, Verzerrungen und Falschinformationen zu verbreiten", sagte er. Ganz so, als sei die brutale Gewalt gegen Frauen nur ein Vorwand für Regierungskritiker oder eine Lappalie, die von wichtigeren Punkten ablenkt.
"Es ist die Verantwortung von uns allen"
"Da in Mexiko Frauen aus Hass getötet werden und die Regierung und die Gesellschaft nichts dagegen unternehmen, ist es an uns Frauen, hinauszugehen und durch Proteste zu zeigen, was mit uns in Mexiko geschieht", sagt Linda Neferthary aus Mexiko-Stadt dem SPIEGEL. Sie ist Koordinatorin der Bewegungen "Una Menos México” und "Latinas Guerreras en Movimiento”.
Seit zwei Jahren engagiert sich die 30-Jährige bereits. Sie ist schockiert vom Ausmaß der Femizide, die meist von ehemaligen oder aktuellen Beziehungspartnern begangen werden. "Die offizielle Statistik geht von zehn Femiziden pro Tag aus, aber die Dunkelziffer ist hoch und ich muss zusehen, wie aus meiner Umgebung ständig Frauen und Kinder verschwinden”, sagt Neferthary. "Es ist die Verantwortung von uns allen, etwas zu tun, um diese Gewalt gegen uns Frauen zu stoppen.”

Fast kein Tag vergeht ohne eine Protestaktion gegen Femizide, wie hier auf den Straßen von Mexiko City
Foto: Sashenka Gutierrez/EPA-EFE/REXNeferthary hat das Gefühl, dass die Proteste zunehmend wütender werden. Der Grund: Die Hoffnung auf einen Wandel schwindet. Kritiker werfen den Feministinnen vor, dass sie zu aggressiv auftreten, Gebäude beschädigen. Sie sollten doch lieber mit friedlichen Kunstaktionen protestieren, wird unter anderem gefordert.
Das hält Neferthary für absurd. "Wir sind mit noch mehr Wut auf die Straße gegangen, weil die Medien Ingrid Escamilla ein zweites Mal zum Opfer gemacht haben”, sagt sie. Solange der Präsident nicht akzeptiere, dass die Frauenmorde ein gravierendes gesellschaftliches Problem seien und er seine Beamten nicht an konkreten Lösungen arbeiten lasse, bleibe er Teil des Problems, sagt sie.
"Es bringt nichts, das Strafmaß zu erhöhen, wenn die Straflosigkeit so hoch bleibt"
Politiker diskutieren nach dem Mord an der kleinen Fátima nun über eine verschärfte Aufsicht an Schulen. Die Abgeordnetenkammer legte eine Schweigeminute ein und verabschiedete eine Justizreform. Femizide werden künftig härter geahndet, die Gefängnisstrafe wurde von 60 auf 65 Jahre erhöht. Auch Beamte, die Ermittlungen verzögern oder behindern, sollen künftig mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden.
"Es bringt nichts, das Strafmaß zu erhöhen, wenn die Straflosigkeit so hoch bleibt", kritisierte die auf Frauenrechte spezialisierte Anwältin Andrea Medina die Reform am Mittwoch bei einer Diskussionsrunde in Mexiko-Stadt. Viele Feministinnen haben den Glauben an Gesetze und Justiz aber verloren.
Es habe in Mexiko bereits Fortschritte wie das Anti-Diskriminierungsgesetz gegeben, existierende Gesetze müssten im Alltag aber besser durchgesetzt werden, sagt sie. Um die Sicherheit zu erhöhen, seien nicht noch mehr Waffen notwendig - es bräuchte Weiterbildungen für Regierungsangestellte, mehr Anti-Diskriminierungsexperten im Regierungsdienst.

Trauernde nehmen am Sarg Abschied von Fátima
Foto: CARLOS JASSO/ REUTERSDer Journalist und Kriminalitätsexperte Óscar Balmen prangert an, dass viele Femizide nie eine breite Öffentlichkeit erreichen. "Die Mehrheit der Fälle bekommt keine Aufmerksamkeit, weil die Morde in abgelegenen Regionen oder im Landesinneren stattfinden, wo Journalisten von kriminellen Gruppen zensiert und bedroht werden", sagt er dem SPIEGEL.
Er hat nach dem Mord an Ingrid Escamilla ähnliche Fälle recherchiert, bei denen Frauen das Gesicht oder die Haut abgezogen wurde, ohne dass es einen Aufschrei gab oder jemand ihren Namen kennt - elf registrierte Fälle gab es seit 2015. Die Dunkelziffer schätzt er dreimal so hoch ein. "Die Medien sollten sich nicht nur auf den Mord fokussieren, sondern auch darauf, was danach kommt", sagt Balmen. "Sie sollten das Fehlverhalten der Behörden aufdecken, dem Verbrechen, der Verhaftung und Bestrafung des Täters das gleiche Gewicht geben wie den Morden."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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