Familie eines ertrunkenen Migranten "Jetzt ist er tot, und wir haben nichts mehr"

Ein altes Passfoto von Lansana Bangoura, der auf dem Weg nach Europa starb
Foto:Benjamin Moscovici
Mafule Camara kramt eine Bauchtasche unter ihrem Kleid hervor und holt vorsichtig ein altes Passfoto raus. Lange starrt sie schweigend auf das Bild ihres Sohnes. Dann bricht es plötzlich aus ihr heraus: "Oh, mein Lansana! Wir wollten ihm doch nur helfen! Wir wollten ihn doch nicht in den Tod schicken!"
Regen prasselt auf das Dach der niedrigen Hütte von Mafule Camara in Conakry, der Hauptstadt Guineas, und lässt das Wellblech zittern und dröhnen. Sie erzählt von dem Tag im Herbst 2017, als ihr kleines chinesisches Billigtelefon klingelte und auf dem gesprungenen Bildschirm eine unbekannte Nummer aufleuchtete. Etwa ein Jahr zuvor hatten sie und ihr Mann den Sohn, Lansana, auf den Weg nach Europa geschickt.
Das Gespräch jetzt war kurz, die Verbindung schlecht. Das Einzige, was sie verstand: Lansana, ihr Ältester, ist tot.

Lansanas Mutter Mafule Camara
Foto: Benjamin MoscoviciWas genau geschah, lässt sich nicht rekonstruieren. Fest steht nur, dass Lansana Bangoura, damals 31 Jahre alt, die Reise nach Europa nicht überlebte. Vielleicht hieß es kurz darauf in westlichen Medien, dass erneut zahlreiche Migranten im Mittelmeer ertrunken seien. Vielleicht lieferte Lansanas Tod den Anstoß für eine weitere öffentliche Debatte über Seenotrettungen. Wahrscheinlich aber nahm kaum jemand Notiz davon.
Auf dem kleinen Innenhof der Familie Bangoura in Conakry hingegen brach mit Lansanas Tod eine Welt zusammen. Dabei geht es um mehr als nur um Trauer. Lansana war, wie so viele Migranten, mit den Hoffnungen seiner gesamten Familie im Gepäck aufgebrochen. Einmal in Europa angekommen, würde er schon bald genug Geld verdienen, um die Verwandten zu Hause finanziell zu unterstützen. Vielleicht könnte er auch andere Familienmitglieder nachholen, so die Erwartung. Diese Hoffnungen versanken mit Lansana im Mittelmeer.
Der Regen schießt aus den Rillen der Wellblechdächer und bildet einen silbrig glitzernden Perlenvorhang vor Mafule Camaras kleiner Terrasse. Es ist Regenzeit in Guinea. Auf dem Boden des uneben betonierten Innenhofs formen sich kleine Bäche, die sich zwischen den dicht aneinander gedrängten Hütten der Familie einen Weg bahnen, sich einen Kanal suchen und sich dann draußen auf der Straße mit den Bächen aus den anderen Innenhöfen zu einem Fluss vereinen, der den ganzen Schmutz, die zertretenen Plastikflaschen, Fäkalien und Essensreste erst in die offene Kanalisation und schließlich ins Meer spült.

Innenhof der Großfamilie: Alle hatte ihre Hoffnungen auf Lansana gesetzt
Foto: Benjamin MoscoviciDie Familie Bangoura ist groß. Wie viele Menschen genau hier auf dem kleinen Innenhof unweit des Flughafens leben, kann selbst Familienvater Sekou nicht sagen. Da ist die Hütte seiner ersten Frau, der Mutter von Lansana. Daneben die Hütte seiner zweiten Frau. Dazu kommen Enkel mit ihren Familien, Cousins, Onkeln und Tanten. Insgesamt vielleicht dreißig oder vierzig Personen. Sie alle hatten ihre Hoffnungen auf Lansana gesetzt.
Der Blick von Lansanas Vater ist hart, als er über seinen Sohn spricht: "Ich hatte nur genug Geld, um eines meiner Kinder zur Schule zu schicken." Lansana, den ältesten Sohn. "Ich habe ihn Abitur machen lassen und sein Studium bezahlt." Alles Geld der Familie sei in die Ausbildung dieses einen Jungen geflossen, sagt der Vater. "Ich wollte, dass er irgendwann die Familie ernährt."
Lansana studierte Soziologie, fand aber auch Jahre nach dem Ende seines Studiums keine feste Stelle. So geht es vielen in Guinea, das wie so viele Länder in Westafrika unter extremer Jugendarbeitslosigkeit leidet. Zu viele Kinder, zu wenig Jobs. Von Jahr zu Jahr schwand die Hoffnung. "Wenn du nicht aus einer einflussreichen Familie kommst, hast du hier keine Chance", sagt Lansanas Vater mit Bitterkeit in der Stimme.

Vater Sekou kannte das Risiko, er hatte schreckliche Geschichten gehört
Foto: Benjamin MoscoviciUnd so beschloss die Familie irgendwann, Lansana nach Europa zu schicken. Als Einziger mit einem Abschluss hätte er die besten Chancen, dort eine Arbeit zu finden, dachten sie.
Um das Geld für die Reise aufzubringen, verkauften sie alles, was sie nicht direkt zum Leben brauchten. Sie trennten sich sogar von ihrem einzigen Erbstück: Einem kleinen Stück Land am Stadtrand von Conakry, das seit jeher im Besitz der Familie war. Umgerechnet 3000 Euro kamen so zusammen.
Im Dezember 2016 ging es los: Von Conakry an der westafrikanischen Atlantikküste zieht Lansana nach Nordosten, vorbei an den dicht bewaldeten Bergketten des Fouta Djallon, den Goldminen in der Tiefebene an der Grenze zu Mali und über den Niger. Zwischenstopp in Bamako. Dann weiter den Niger entlang, vorbei an Gao, wo die Bundeswehr ihre Soldaten stationiert hat und rauf in den Norden, in die Sahara, wo Tuareg-Rebellen und Dschihadisten ihre Waffen unter anderem mit dem Schmuggel von Migranten finanzieren.
Wie viele Migranten hat auch Lansana seine Familie mit Details von seiner Reise weitgehend verschont. Was genau unterwegs passiert ist, wissen weder seine Eltern noch die Geschwister. Aber es gibt Berichte über die Bedingungen entlang der wichtigsten Routen Richtung Mittelmeer: Wer keine gültigen Papiere besitzt, wird dort oft wie Freiwild behandelt. Wer nur Geld und nicht sein Leben verliert, hat Glück gehabt.
Lansana schafft es durch die Wüste, schlägt sich bis an die algerische Küste durch. Dort sei er einige Monate geblieben, habe gearbeitet und Geld für die Weiterreise nach Libyen gespart, so erzählt es seine Familie. Von dort habe er sich schließlich wieder bei seiner Familie gemeldet, weil er für die Überfahrt noch einmal 3000 Euro gebraucht habe.
Aber die Familie hat keine Reserven mehr. Seine Eltern beginnen herumzufragen. Bei Verwandten und Bekannten, bei Freunden und Leuten aus dem Viertel. Sie versprechen, das Geld zurückzuzahlen, sobald Lansana in Europa ist und Geld verdient. Es dauert nicht sehr lange, bis sie das nötige Geld zusammenhaben.

Familie Bangoura aus Guinea: Das Leben muss weitergehen
Dann schließlich ein Anruf von Lansana: "Mama, ich habe ein Boot gefunden, das mich nach Europa bringt", habe ihr Sohn gesagt, erzählt Mafule. Ihr steigen Tränen in die Augen. "Morgen geht es los." Und dann: Funkstille. Mehrere Tage keine Nachricht. Nichts. Nur banges Warten. Bis zu jenem Anruf von der unbekannten Nummer.
Was wird das massenhafte Sterben von Migranten im Mittelmeer mit einem Kontinent machen, der in den vergangenen Jahren Tausende seiner Söhne und Töchter verloren hat? Laut Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben seit Ende 2014 mehr als 14.000 Menschen auf dem Weg von Afrika nach Europa. Das sind in etwa so viele wie während des Kosovokriegs.
Lansanas Eltern kannten das Risiko. Sie hatten Geschichten gehört. Geschichten von Menschen, die in der Sahara verdursten oder in die Hände brutaler Menschenhändler fallen. Sie wussten, dass einige Migranten von Foltergefängnissen in Libyen erzählten. Und sie wussten, dass regelmäßig Menschen im Mittelmeer ertrinken. Es gibt in Guinea sogar Gruppen, die vor der lebensgefährlichen Überfahrt warnen. Und dennoch haben sie ihren Jungen auf die Reise geschickt. Fühlen sie sich schuldig?
"Nein", sagt Lansanas Vater. "Ich würde die gleiche Entscheidung wieder treffen." Sein Blick wird noch eine Spur härter. "Ein Leben lang habe ich ihm alles gegeben, was ich hatte - jetzt ist er tot, und wir haben nichts mehr."
Der jüngste der vier Söhne erzählt, dass Lansana ihm immer versprochen habe, ihm eines Tages sein Studium zu finanzieren. Stattdessen habe er jetzt kurz vor dem Abschluss die Schule abbrechen müssen, um Geld zu verdienen. "Ich kann gar nicht sagen, wie enttäuscht ich bin", sagt er.
Die Trauer um den verlorenen Sohn wird überlagert von der Verzweiflung über den Verlust der einzigen Hoffnung auf eine bessere Zukunft und der schieren Not. Lansanas Tod ist für seine Familie eine existenzbedrohende Katastrophe. Sie haben alles verkauft, sich bei Freunden und Verwandten verschuldet, und jetzt stehen sie mit leeren Händen da.
Aber der Fokus auf den finanziellen Verlust werde mit der Zeit der Trauer weichen, davon ist Liman Koita überzeugt. Er weiß, was es heißt, mit dem Verlust eines Kindes leben zu müssen. Sein Sohn starb vor 20 Jahren im Sommer 1999 mit 15 Jahren im Fahrzeuggestell eines Flugzeugs auf dem Weg von Guinea nach Brüssel. Gemeinsam mit seinem besten Freund war Yaguine Koita von zu Hause weggelaufen.
Vater Liman Koita
In einem Brief, den man bei ihren Leichen fand und der damals um die Welt ging, schrieben die beiden Jungen von den Missständen in ihrer Heimat, der Situation der Kinder. Sie schrieben, dass sie wüssten, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Aber sie wollten auf eine normale Schule gehen und wie andere Kinder spielen dürfen.
Noch heute steigen Liman Koita Tränen in die Augen, wenn er vom Abschiedsbrief seines Sohnes erzählt. Dass für viele Angehörige von verstorbenen Migranten die ökonomische Katastrophe die eigentliche Trauer überdecke, sei ein besonders trauriger Ausdruck der Armut. "Wer nicht weiß, wovon er leben, mit welchem Geld er die Miete bezahlen soll, der kann sich keine Trauer leisten", sagt er.
Doch selbst den schlimmsten finanziellen Verlust könne man irgendwann irgendwie verkraften. "Aber der Verlust eines Kindes lässt einen nie mehr los."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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Anmerkung der Redaktion: Eine kürzere Version des Textes ist bereits im "Deutschlandfunk" erschienen.