Nach Mord an Sarah E. in London So können Städte weltweit sicherer für Frauen werden

Nach der Ermordung einer Frau in London fordern Britinnen besseren Schutz gegen Übergriffe im öffentlichen Raum. Kameraüberwachung hilft kaum. Weltweit reduzieren Städte Gewalt gegen Frauen nun mit ganz neuen Konzepten.
Nach dem Mord an Sarah E. in London fordern Protestbewegungen bessere Schutzmaßnahmen für Frauen

Nach dem Mord an Sarah E. in London fordern Protestbewegungen bessere Schutzmaßnahmen für Frauen

Foto: Drew Angerer / Getty Images
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Sarah E. machte sich am 3. März 2021 auf den Heimweg, nachdem sie im Süden Londons eine Freundin besucht hatte. Zuletzt wurde die 33-jährige Marketingmanagerin um neun Uhr abends in der Nähe eines Parks in Clapham lebend gesehen – sie hatte sogar noch mit ihrem Freund telefoniert. Einige Tage später wurde ihre Leiche gefunden. Der mutmaßliche Täter, der sie entführt und ermordet haben soll: ein Polizist.

Die Wut in Großbritannien ist gerade auch deswegen so groß, weil jede Frau Sarah E. sein könnte: Einer von »UN Women UK« beauftragten Studie  zufolge haben mehr als 80 Prozent der Britinnen im Alter von 18 bis 24 Jahren bereits sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum erlebt. Bewegungen wie »Reclaim these Streets« organisieren derzeit Proteste, halten virtuelle Mahnwachen ab und fordern bessere Maßnahmen, um Frauen zu schützen.

Die meisten britischen Frauen wurden schon im öffentlichen Raum belästigt

Die meisten britischen Frauen wurden schon im öffentlichen Raum belästigt

Foto: Richard Baker / Corbis / Getty Images

Die Ängste und Erfahrungen, die Frauen unter Hashtags wie #ReclaimtheseStreets  in sozialen Netzwerken teilen, kennen Frauen weltweit: Wie sie sich verfolgt fühlen, sobald ein Mann hinter ihnen läuft, wie sie sich mit Schlüsseln oder Pfefferspray auf Angriffe vorbereiten oder Umwege gehen, um dunkle Ecken zu meiden. Frauenbewegungen, die immer mehr Zulauf erhalten, erhöhen den Druck auf Regierungen, konsequenter gegen Gewalt vorzugehen.

Doch wie können Städte sicherer gemacht werden für Frauen?

Vielversprechende Konzepte aus London, Wien, Bangkok und Ciudad Juárez zeigen, wie der öffentliche Raum für Mädchen und Frauen besser gestaltet werden kann: mit ausreichender Beleuchtung auf Plätzen und in Parks, gut einsehbaren Straßen, Bus- und Bahnstationen. Aber auch mit speziellen Trainings für Busfahrer und Polizisten. Und anhand technischer Hilfsmittel wie Apps können Nutzerinnen sich sichere Routen durch die Stadt anzeigen lassen oder Vorfälle melden.

Die Beispiele zeigen: Dass sich Frauen geschützter in Städten bewegen können, ist eine Aufgabe sowohl für Politik und Städteplaner, aber auch für die Gesellschaft im Ganzen.

Herkömmliche Navi-Apps leiten Frauen oft in unsichere Gegenden

Herkömmliche Navi-Apps leiten Frauen oft in unsichere Gegenden

Foto: Jorge Sanz / SOPA / LightRocket / Getty Images

Dass technische Überwachung allein nicht hilft, zeigt das Beispiel London, heute schon eine der Städte mit der höchsten Kameradichte weltweit: »Comparitech « zufolge überholt London mit 68,4 Kameras je 1000 Einwohner sogar Peking – zu Übergriffen kommt es trotzdem.

Nach dem Mord an Sarah E. hat der britische Premier Boris Johnson das Budget für bessere Beleuchtung und Überwachungskameras verdoppelt, 52 Millionen Euro stehen nun insgesamt zur Verfügung. »Überwachung wird gerade als eines der vermeintlich besten Werkzeuge diskutiert, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern«, kritisiert Jillian Kowalchuk. »Forschung belegt aber, dass Kameras zur Prävention nicht besonders effektiv sind, sondern wie im Fall von Sarah eher helfen, Täter zu identifizieren und zu finden.«

Jillian Kowalchuk hat die App »Safe & the City« entwickelt, um Belästigungen zu verhindern

Jillian Kowalchuk hat die App »Safe & the City« entwickelt, um Belästigungen zu verhindern

Foto: Safe & The City

Die 35-jährige Kanadierin, die in London lebt, hat eine App entwickelt, die Frauen in ganz Großbritannien und in Berlin sicherer durch die Stadt navigiert. »Safe & the City« hilft ihnen, potenziell gefährliche Orte zu meiden und dokumentiert, wo bisher etwa Beleuchtung fehlt.

Die App sammelt schlechte, aber auch gute Erfahrungen, um bessere Routen zu berechnen: Nutzerinnen werden aufgefordert zu bewerten, wie sicher sie sich auf ihrem Weg gefühlt haben – und sie sollen sexuelle Belästigung, andere Übergriffe und Missstände melden. Rund 30.000 solcher Vorfälle hat die App bisher dokumentiert. Per Notruf-Button können Frauen direkt die lokale Polizei alarmieren – ein paar Hundert Nutzerinnen haben davon bereits Gebrauch gemacht.

»Schlecht einsehbare Sackgassen-Situationen sollen vermieden werden«

Kleine Eingriffe wie mehr Straßenlaternen können Städte stellenweise sicherer für Frauen machen – im Idealfall wird der Schutzaspekt aber von vorneherein in die Stadt- und Nahverkehrsplanung sowie in Finanzentscheidungen eingebunden. So will das Konzept »Gender Mainstreaming« Gleichstellung in allen Bereichen erreichen und die traditionelle Städteplanung verändern: »Die Erfahrungen von Frauen im Stadtleben und ihre speziellen Bedürfnisse waren immer nur ein Nachgedanke, weil die meisten Stadtplaner und Politiker Männer waren und sind«, sagt Leslie Kern, Autorin von »Feminist City«.

Frauen sind stärker als Männer auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, doch Bürgermeister investieren meist mehr in den Ausbau von Straßen statt in Fußwege und öffentliche Verkehrsmittel. Auch Unterführungen lassen zwar den Verkehr besser fließen – doch Tunnel können zur Falle werden und Frauen Angst machen. »Schlecht einsehbare, wenig frequentierte Sackgassen-Situationen sowie optische Sackgassen, also scharfe Kurven oder etwa durch Säulen verdeckte Ausgänge, sollen vermieden werden«, heißt es in einem Papier  der Stadt Wien zu geschlechtssensibler Verkehrsplanung.

Wien setzt das Konzept »Gender Mainstreaming« bereits seit 15 Jahren um: Frauen werden in leitenden Funktionen und als Expertinnen an Entscheidungen beteiligt, Anwohnerinnen nach ihren Wünschen für neue Projekte befragt. Bei Vorhaben kalkuliert die Stadt die unterschiedlichen Folgen auf den Alltag von Frauen und Männern – und teilt auch das öffentliche Budget entsprechend gerechter auf.

Freie Sicht: In Wiener Parkanlagen sollen sich auch Frauen wohlfühlen

Freie Sicht: In Wiener Parkanlagen sollen sich auch Frauen wohlfühlen

Foto: Peter Zelei Images/ Getty Images

Die Stadt hat viele Fußwege verbreitert, den öffentlichen Nahverkehr ausgebaut und Grünanlagen wie den Einsiedlerpark  so umgestaltet, dass auch Mädchen sich dort sicher fühlen. Der früher von jungen Männern dominierte Basketballplatz wurde in zwei Spielflächen aufgeteilt, neue Angebote wie Hängematten kamen hinzu. Zudem wurden die Hauptzugangswege der Parkanlage verbreitert und die Beleuchtung verbessert.

Busfahrer als »Augen einer Stadt«

Auch Thailands Hauptstadt Bangkok mit seinen 15 Millionen Einwohnern versucht seit Jahren, die Straßen für Frauen sicherer zu machen. Dort werden gezielt Bus- und Taxifahrer sowie Schaffner eingebunden. Die Idee: Wer am Steuer öffentlicher Verkehrsmittel sitzt oder Fahrkartenkontrollen in U-Bahnen durchführt, hat seine Augen wortwörtlich auf den Straßen und in den Tunneln der Metropole – und bekommt als Erstes mit, wenn eine Frau in Gefahr ist.

Busfahrer sollen Frauen in Thailand vor Belästigungen schützen

Busfahrer sollen Frauen in Thailand vor Belästigungen schützen

Foto: DIEGO AZUBEL / EPA-EFE

So werden Mitarbeitende des staatlichen Busunternehmens The Transport Company seit zwei Jahren ausgebildet  zu erkennen, ob Fahrgäste sexuell belästigt werden. Sie lernen, wie sie deeskalieren oder sich einmischen, ohne sich und andere zu gefährden.

Das Unternehmen brachte QR-Codes an den Sitzen der Verkehrsmittel an, über die Frauen Übergriffe melden können. Mehr als 300 Busse sind zudem mit speziellen Videos ausgerüstet, vergleichbar mit den Sicherheitsvideos, die vor dem Start in Flugzeugen gezeigt werden. Die Filme in den Bangkoker Bussen sollen vor allem Männer für das Thema sensibilisieren und sie motivieren einzuschreiten und Fälle zu melden. Denn wie Erfahrungsberichte  und Studien belegen, ist Kameraüberwachung in U-Bahn-Schächten und Verkehrsmitteln zwar wichtig – entscheidend ist aber oft das schnelle Eingreifen von unbeteiligten Menschen, um Übergriffe zu beenden oder gar zu verhindern.

Notrufsäulen und Training für die Polizei

In Mexiko hat gerade die Hauptstadt der Frauenmorde, die Grenzmetropole Ciudad Juárez, eine gendersensible Brennpunktstrategie entwickelt, die künftig als Vorbild für andere Städte dienen soll. Das Fraueninstitut der Stadt wurde mitten in die verfallene Altstadt hineingebaut, in die Nähe von Rotlichtviertel und Grenzübergang – dort, wo besonders viele Frauen entführt, zur Prostitution gezwungen und belästigt werden.

Demonstration am Weltfrauentag: Tausende Frauen sind in den vergangenen Jahren in Ciudad Juárez ermordet worden oder spurlos verschwunden

Demonstration am Weltfrauentag: Tausende Frauen sind in den vergangenen Jahren in Ciudad Juárez ermordet worden oder spurlos verschwunden

Foto: David Peinado / NurPhoto / Getty Images

Rund um das Institut soll der »Corredor Seguro «, ein Sicherheitskorridor, entstehen. An Notrufsäulen kann die Polizei alarmiert werden und öffentliche, überwachte Toiletten stehen für Mädchen und Frauen bereit, die jeden Tag zur Schule und Arbeit über die Grenze strömen – sodass sie nicht mehr die Einrichtungen zwielichtiger Bars oder Restaurants nutzen müssen.

Auch die Polizei soll mehr Präsenz zeigen: Mehr Polizistinnen werden im Zentrum stationiert, zudem hat das Fraueninstitut zusammen mit der lokalen Universität einen 120-stündigen Theorie-und-Praxis-Lehrgang entwickelt, der die Sicherheitskräfte für Gewalt gegen Frauen sensibilisiert. Rund 80 Beamte haben die Ausbildung bereits durchlaufen.

»Sie lernen Vorfälle auf andere Art und Weise zu sehen und anzugehen«, sagt die Institutsleiterin Verónica Corchado. »Wenn sich ein Mann und eine Frau gestritten oder geprügelt haben, sind sie früher oft davon ausgegangen, dass es eine Sache zwischen den beiden ist oder beide Täter sind – jetzt trennen sie die beiden sofort und geben Frauen die Chance, sich zu erklären.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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