Kampf gegen Genitalverstümmelung Schnitt ins Fleisch

Eiman Tahir ist im Sudan aufgewachsen, wo Beschneidung von Mädchen gängige Praxis ist. Die Gynäkologin behandelt in Deutschland lebende Frauen, denen dieses grausame Ritual angetan wurde.
Aus München berichtet Maria Stöhr
Frauenärztin Eiman Tahir in ihrer Praxis in München: "Was geht denn bei Ihnen ab?"

Frauenärztin Eiman Tahir in ihrer Praxis in München: "Was geht denn bei Ihnen ab?"

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Gina Bolle/ DER SPIEGEL

Globale Gesellschaft

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Sie hat es ausgehalten damals als Sechsjährige, als sie ihrer Großmutter, der Hebamme, bei einer Spontangeburt im Wohnzimmer assistierte. Sie hat es ausgehalten in Berlin in den Achtzigern, an der Uni, als sie alles auf einmal lernen musste, deutsch und Latein und Medizin. Sie hat es ausgehalten, als sie nebenbei ihr Studium finanzierte, mit Brötchenschmieren und Hinternabwischen im Altenheim, während die Alten sie als "schwarzen Abschaum" beschimpften.

Eiman Tahir, 53 Jahre, ist erst umgekippt im zweiten Semester Anatomie, Präparierkurs, Tisch elf. Sie sah die Leiche und sie sank dahin.

München, Stachus, Sonnenstraße, die Frauenarztpraxis von Eiman Tahir. Es ist spät, sie hat an diesem Tag lang gearbeitet und einem Baby auf die Welt geholfen, ein Junge. Nun sitzt Tahir in ihrem Sprechzimmer und sagt, sie sei dann damals noch mal in den Sezierraum rein und noch mal zu der Leiche hin, noch mal in Ohnmacht gefallen, noch mal zurück, noch mal hin an den Tisch. Wer Medizin studiert, muss nun einmal Leichen sezieren, da gab es für Eiman Tahir keine Ausnahme.

"Ich wusste, wenn ich jetzt mein Studium abbreche und wieder zurückgehe in mein Land, dann ist mein Traum geplatzt, dann habe ich versagt. Dann haben meine Eltern umsonst ihr Haus verkauft für mich."

Es gibt in München 456 Frauenarztpraxen, wenn man beim Onlineportal Jameda nach Praxen im Umkreis von sechs Kilometern ums Zentrum sucht. Es gibt aber nur wenige Frauenarztpraxen, in die sich Frauen trauen, die beschnitten sind. Frauen also, denen Teile der Klitoris und der inneren Schamlippen entfernt, manchmal auch die Vagina, bis auf ein stecknadelgroßes Loch, zugenäht wurde. Weltweit sind 200 Millionen Frauen betroffen. Aber es leben auch in Deutschland nach Schätzungen Zehntausende Frauen, die beschnitten sind.

Fast täglich kommen beschnittene Frauen in Tahirs Praxis

Eiman Tahir hat viel Zeit damit verbracht, die Schmerzen dieser Frauen zu lindern. Sie sagt, dass viele voll Scham sind, dass einige kein Deutsch sprechen, dass sie sich am ehesten von einer Frau behandeln lassen, die arabisch spricht, aus einem ähnlichen Kulturkreis kommt wie sie. "Hier in der Praxis habe ich fast jeden Tag damit zu tun", sagt sie.

In Tahirs Sprechzimmer kann man schnell vergessen, dass man in einer Arztpraxis sitzt, es ist eher, als würde man eine Krimiautorin auf einen heißen Tee treffen. Eine Vitrine aus dunklem Holz, dahinter Fläschchen, Postkarten, Nippes. Eine Orchidee, ein Bronzeelefant, ein eingerahmter Artikel der "Süddeutschen Zeitung".

Tahir setzt sich, auf einem Tischchen lehnt das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes, der ein Tuch um den Kopf gebunden trägt, dahinter Palmen. "Mein Vater, meine Heimat", sagt sie.

Ihre Heimat, das ist Khartum, Sudan. Tahir wächst als eine von drei Töchtern auf, der Vater arbeitet im diplomatischen Dienst, die Mädchen dürfen lernen, sie machen Abitur, was im Sudan keine Selbstverständlichkeit ist. Knapp 50 Prozent der Frauen wachsen laut Unicef in dem Land ohne Bildung auf. Die Mehrheit der Frauen im Sudan ist beschnitten. Eiman Tahir und ihre Schwestern nicht.

Weibliche Genitalverstümmelung

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit rund 200 Millionen der heute lebenden Mädchen und Frauen genital verstümmelt worden sind (auch Female Genital Mutilation FGM genannt) Drei Millionen Mädchen seien jährlich gefährdet. Das Ritual wird vor allem in Teilen Afrikas (zu Beispiel in Somalia, Äthiopien, Ägypten, Sudan), Asiens und des Mittleren Ostens vollzogen. Oft von älteren Frauen oder Hebammen, ohne Betäubung, mit Rasierklingen, Glasscherben oder scharfen Steinen.

Man unterscheidet zwischen verschiedenen Abstufungen bei der weiblichen Beschneidung. Den Mädchen wird die Klitoris, oft auch die inneren und äußeren Schamlippen genommen, oder die Vagina wird zugenäht.

Die Schnitte nehmen den Frauen die Würde, manchmal die Fähigkeit, ein Kind zu gebären oder ohne Schmerzen Wasser zu lassen, Sex zu haben. Manche Beschneidung endet mit dem Tod.

Nach dem Vorfall damals im Wohnzimmer, als eine Hochschwangere quasi vor Tahirs Füßen niederkam, stand für Tahir fest: Sie wird Frauenärztin. Vorbild: die Großmutter, eine Hebamme, die, wie Tahir sagt, oft tagelang nicht nach Hause kam, weil sie von Geburt zu Geburt zu Geburt gerufen wurde. Die mit den Händen spüren konnte, wie schwer ein Kind ist und wann es wohl zur Welt kommen würde.

"Ich wollte nicht mein Leben lang nur Leichenscheine ausstellen" 

Tahirs Plan ging so: Im Ausland studieren, als Ärztin zurück in den Sudan gehen, Gesundheitsministerin werden, gegen die Beschneidung aufklären. "Ich wollte wirklich was verändern", sagt sie. Aber als sie dann für ihre Doktorarbeit zwei Jahre am Uniklinikum in Khartum praktizierte, sah sie dort so viele Frauen sterben, junge Frauen, weil etwa Blutkonserven fehlten oder Antibiotika. Sie sagt, dass sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten habe. "Ich wollte nicht mein Leben lang nur Leichenscheine ausstellen." Sie verstand nicht, warum jene Frauen, die die höllischen Folgen der Beschneidung am eigenen Körper erfuhren, trotzdem das Gleiche an ihren Töchtern taten.

Sie ging zurück nach Deutschland.

Warum ausgerechnet ein Studium in Berlin?

"Weil ein Onkel schon da war."

Wie war Berlin in den Achtzigern?

"Kalt. Ich kam im Winter, ohne Jacke. Ich war ein ganzes Jahr erkältet."

Wie ging es Ihnen?

"Auf einmal stand ich mit dem Koffer in der fremden Stadt. Dass ich irgendwie andere Hürden nehmen musste als andere, verstand ich erst, als der Professor bei meiner letzten Prüfung auf meinen Lebenslauf starrte, bevor er irgendwann sagte: 'Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die Prüfung bestanden. Aber was geht denn bei Ihnen ab?'"

Tahir half ihrer Oma, einer Hebamme, mit sechs Jahren bei einer Hausgeburt. Ab da wollte sie Frauenärztin werden

Tahir half ihrer Oma, einer Hebamme, mit sechs Jahren bei einer Hausgeburt. Ab da wollte sie Frauenärztin werden

Foto: Gina Bolle/ DER SPIEGEL

Zehn Tage vor unserem Gespräch ist Tahir aus Burkina Faso zurückgekommen. Der Rücken schmerzt ihr noch, weil sie dort auf improvisierten Stühlen Frauen gynäkologisch untersucht hat. 90 Prozent von ihnen seien beschnitten gewesen, sagt sie, viele mit Entzündungen, Geschwüren, Schmerzen. Sie war mit einem Team vor Ort, sie versuchte, den Menschen auf dem Land zu erklären, warum die Praxis der Beschneidung so gefährlich ist. Hebammen spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie sind es, die die Eingriffe oft durchführen.

Und auf die Männer komme es an. Sie hätten meist überhaupt keine Vorstellung, was Beschneidung bedeutet. Gleichzeitig beschimpften sie eine unbeschnittene Frau als schmutzig, als eine, die man nicht heiraten könne. "Viele Männer sagen, wenn ich mit ihnen spreche: Hätte ich das gewusst, hätte ich nie zugelassen, dass meine Töchter so verletzt werden."

In Deutschland steht die weibliche Beschneidung unter Strafe. Viele Migrantinnen aus Somalia oder Eritrea kommen schon als Beschnittene ins Land. Immer wieder aber werden Kinder für den Eingriff gezielt ins Herkunftsland der Eltern geschickt oder in Deutschland heimlich beschnitten. Fachleute warnen, Deutschland sei nicht ausreichend auf die gesundheitlichen und psychischen Probleme betroffener Frauen eingestellt.

Irgendwann erzählt Eiman Tahir noch einmal von Khartum. Von der Station im Uni-Krankenhaus, wo sich das Traurigste abspiele, das sie je gesehen habe. Dort warten Frauen auf eine Operation, die durch die Beschneidung inkontinent wurden.

Die Verletzung entsteht bei der Geburt des Kindes. Das Baby kann nicht geboren werden, weil die Scheide der Mutter komplett zugenäht ist. Der Kopf des Babys drückt so lange gegen die Blase der Mutter, bis sie reißt. Das Kind stirbt dabei meist, die Frau kann danach ihren Urin nicht mehr zurückhalten. Sie gilt als "unrein", wird verstoßen, ein Albtraum.

Seit Generationen ist für diese Frauen das Dazugehören an eine Bedingung geknüpft, den Schnitt ins eigene Fleisch

Es wird sehr spät in der Münchner Altstadt. Tahir sagt, sie habe vier Jahre gebraucht, um ihre Doktorarbeit fertig zu schreiben. Irgendwann holte sie ihre Mitschriften aus Khartum wieder raus. Sie glaubte, eine Antwort auf die Frage gefunden zu haben, warum Frauen Frauen beschneiden. Warum Mütter Töchtern Qual antun. Sie verstand, dass an diesen Orten der Welt seit Generationen für Frauen das Dazugehören an eine Bedingung geknüpft ist, den Schnitt ins eigene Fleisch.

Sie habe Sachen gesehen, sagt Tahir, die ihre Kollegen in Deutschland nie zu Gesicht bekommen werden. Aber alles in allem sei es ja gut gegangen, sagt sie, aus dem Koffer in Berlin sei eine ganze Praxis in München geworden. Auch, wenn ab und zu so was wie neulich passiert.

Neulich ging Tahirs Mercedes kaputt, jemand vom Kundendienst sollte den Wagen an der Praxis abholen. Als sie ihm am Parkplatz den Autoschlüssel übergeben wollte, fragte der Kundendienstler: "Hat dich der Herr Doktor geschickt?"

Der Mann schien drei Dinge gleichzeitig nicht verstanden zu haben. Dass Frauen Medizin studieren. Dass schwarze Frauen Medizin studieren. Und dass sie manchmal einen Mercedes fahren. Es passiert oft, dass Eiman Tahir einen Satz nicht zu Ende sprechen kann, weil sie sich mit ihrem eigenen Lachen unterbricht. So ist es jetzt auch.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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