ICG-Bericht zur Lage unter der Militärjunta »Als wäre Myanmar von einer Klippe gefallen«

Ein knappes Jahr nach dem Putsch sind Gewalt und Not in Myanmar weiter groß. Doch die Menschen stehen zusammen gegen die Junta – in der Opposition hat der Staatsstreich zu bemerkenswerten Entwicklungen geführt.
Ein Interview von Maria Stöhr, Phuket
Yangon, Myanmar: Seit dem Putsch des Militärs wurden Hunderte Demonstrierende getötet, Zehntausende festgenommen

Yangon, Myanmar: Seit dem Putsch des Militärs wurden Hunderte Demonstrierende getötet, Zehntausende festgenommen

Foto: AP Content / AP
Globale Gesellschaft

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Das Jahr 2021 in Myanmar endete, wie es begonnen hatte. Mit Gewalt. An Heiligabend verübte das Militär im Bundesstaat Kayah einen Angriff, bei dem mehr als 30 Frauen, Kinder, Männer starben. Sie wurden aus verbrannten Autos geborgen, darunter auch zwei Mitarbeiter der Organisation Save the Children.

Begonnen hatte die neue Gewaltwelle in dem Land am 1. Februar 2021, als sich die Militärjunta zurück an die Macht putschte. Seitdem geht sie brutal gegen Demonstrierende vor, Hunderte sind inzwischen tot, Zehntausende im Gefängnis .

Bei all der Grausamkeit ist in den vergangenen Monaten etwas geschehen, das Thomas Kean von der International Crisis Group  (ICG) bemerkenswert findet. Er untersuchte für einen aktuellen Bericht der ICG , der dem SPIEGEL vorab vorlag, wie sich der Staatsstreich in Myanmar auf die Konflikte in den ethnischen Gebieten des Landes ausgewirkt hat.

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Thomas Kean arbeitet für die International Crisis Group zu Themen in Myanmar und Bangladesch, etwa der Rohingya-Krise und dem Friedensprozess in Myanmar. Kean leitet das Magazin »Frontier Myanmar«, das in Yangon erscheint.

Kean zufolge hat sich in dem Land eine breite Opposition gebildet. Einige bewaffnete Gruppen der ethnischen Minderheiten arbeiten inzwischen mit der demokratischen Opposition zusammen, also mit der neu gebildeten Gegenregierung, dem National Union Government (NUG), in der auch Politiker der abgesetzten Regierung von Aung San Suu Kyi sind. Sie spielen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Junta.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil in Myanmar seit Jahrzehnten gefochten wird um halbautonome Gebiete und Selbstbestimmungsrechte; es war in der Vergangenheit immer wieder zu Unruhen zwischen ethnischen Gruppen und jeder Regierung gekommen.

SPIEGEL: Herr Kean, ein Jahr ist der Putsch her. Wie geht es den Menschen in Myanmar?

Kean: Die Lage ist erschütternd, als wäre Myanmar gerade von einer Klippe gefallen. Die Armut steigt, unzählige Menschen sind vertrieben worden, in ihrem eigenen Land auf der Flucht. Und es sieht nicht so aus, als würde sich das alles bald ändern. Eine große humanitäre Notlage. Im Juli fegte die Delta-Welle über Yangon. Ich war damals in der Stadt, es war grausam. Krankenhäuser völlig überlastet. Die Impfquote niedrig. Auch andere Gesundheitsvorsorgen fallen aus, Kinderimpfungen finden nicht mehr statt. Was, wenn die Omikron-Variante zuschlägt? Das Gesundheitssystem ist längst am Boden, man kann das überall sehen. Das Leben der Menschen in Myanmar wird sich absehbar weiter verschlechtern. Die Frage ist nur: Wird es etwas schlechter oder gravierend schlechter?

Dieses myanmarische Mädchen floh mit seiner Familie in den thailändischen Grenzort Mae Sot

Dieses myanmarische Mädchen floh mit seiner Familie in den thailändischen Grenzort Mae Sot

Foto: ATHIT PERAWONGMETHA / REUTERS

SPIEGEL: Trotz allem stehen die Menschen im Land zusammen. Was eint sie in ihrem Widerstand?

Kean: Die Gewalt, mit der das Militär vorgeht. Diese unsägliche Brutalität treibt die Menschen zusammen. Die demokratische Opposition wird getrieben von einer Art Grasroot-Bewegung, den jungen Leuten überall im Land. Diese Frauen und Männer haben verletzte oder tote Freunde von den Straßen tragen müssen. Sie haben Repressionen der Militärs am eigenen Leib erfahren. Aus diesen traumatischen Erlebnissen speist sich, wenn man so will, die Überzeugung dagegenzuhalten.

Proteste in Yangon: »Einen entscheidenden Unterschied machen die sozialen Medien aus«

Proteste in Yangon: »Einen entscheidenden Unterschied machen die sozialen Medien aus«

Foto: STRINGER / REUTERS

SPIEGEL: Was unterscheidet die aktuellen Aufstände gegen das Militär von früheren, etwa im Jahr 1988?

Kean: Die Junta hat absolut nicht damit gerechnet, dass die Leute sich so wehren würden. Sie hat sich verkalkuliert. Einen entscheidenden Unterschied machen die sozialen Medien aus. In der Vergangenheit waren Protestierende völlig isoliert. Wenn Sie 1988 in Yangon auf den Straßen demonstrierten, wussten Sie nicht, was ein paar Kilometer entfernt geschah. Ob Sie allein sind in Ihrem Widerstand – oder ob viele im ganzen Land aufstehen und sich wehren. Diesmal verbreitet sich eine Nachricht sofort, wenn ein Soldat einer protestierenden Frau in den Kopf schießt. Die Bilder von den Demos sind überall – und motivieren weitere Leute. Das Militär hat versucht, die sozialen Medien zu kontrollieren, ist aber gescheitert.

Guerillakämpfer der sogenannten People's Defence Forces trainieren im Dezember 2021 im Gebiet einer ethnischen Minderheit

Guerillakämpfer der sogenannten People's Defence Forces trainieren im Dezember 2021 im Gebiet einer ethnischen Minderheit

Foto: STRINGER / REUTERS

SPIEGEL: Nun ist das eingetreten, was das Militär unbedingt verhindern wollte: Es hat sich eine starke demokratische Front gebildet.

Kean: Verschiedene ethnische Gruppen haben – weil sie seit Jahrzehnten als Minderheiten gegen die zentrale Regierung kämpfen – eigene Armeen, sie haben eigene Gesundheitssysteme, Versorgungswege. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Ausstattung der myanmarischen Opposition. Mit Waffen, klar. Aber auch politisch und humanitär. Mit Covid-Impfstoff zum Beispiel. Sie trainieren Widerstandskämpfer, rüsten sie aus. Sicherlich gibt es auch Gruppen, die sich raushalten oder eher mit der Seite der Junta sympathisieren. Aber besonders auffällig sind eben die Bündnisse zwischen vielen Ethnic Armed Forces und der demokratischen Opposition. Diese sind in den vergangenen Wochen und Monaten immer enger geworden.

SPIEGEL: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass dieser Zusammenschluss dauerhaft hält? Seit seiner Unabhängigkeit hat es in Myanmar kaum ein Jahr politischer Ruhe gegeben. Es gibt mehr als 20 Minderheitsgruppen. Ein zersplittertes Land.

Kean: Eine Einheitsfront, die alle bewaffneten ethnischen Gruppen Myanmars umfasst, wird es nicht geben, dafür sind die Rivalitäten zu groß. Aber mindestens vier Gruppen sind nun wichtige Partner der informellen Gegenregierung, und weitere fünf oder sechs zum Teil.

Ich habe das Gefühl, dass sich die Beziehung zwischen ethnischen Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung im Land durch den Putsch dramatisch verändert hat. Sie alle wollen das Militär weghaben. In der Vergangenheit hat die Mehrheit in Myanmar die Minderheiten und insbesondere die bewaffneten ethnischen Gruppen als zerstörerische Kräfte angesehen. Ihnen wurde die Schuld gegeben für die mangelnde Entwicklung Myanmars und all seine Probleme. Jetzt gibt es eine Menge Sympathie für die ethnischen Minderheiten, das ist neu. Und das spielt sich nicht nur oben an der Spitze ab. Die Menschen respektieren sich, hören sich zu, in der breiten Bevölkerung. Das Verständnis füreinander wächst. Das ist wahnsinnig wichtig.

»Im Juli fegte die Delta-Welle über Yangon. Ich war damals in der Stadt, es war grausam.«

SPIEGEL: Was verspricht die Gegenregierung NUG den ethnischen Gruppen?

Kean: Myanmar endlich zu einem föderalen System umzubauen, in dem die ethnischen Gruppen Mitspracherecht haben sollen, repräsentiert sind. Für so ein System kämpfen die Gruppen seit Jahrzehnten. Für sie ist es eine einmalige Chance, Myanmars politische Basis neu aufzustellen. Auch wenn sie nicht naiv sind: Die Gruppen wissen, wie lang der Atem sein muss, wenn man gegen die Junta kämpft und gewinnen will. Ein grausamer, zäher Kampf.

SPIEGEL: Was könnte und sollte die internationale Gemeinschaft tun?

Kean: Der Rest der Welt darf nicht die Hände in den Schoß legen und sagen: Oh, die Lage in Myanmar ist zu kompliziert, wir können nichts tun. Doch! Wir müssen kreative Wege finden, um zu helfen. Zum Beispiel die Grenzregionen besser nutzen, um Güter ins Land zu schicken. Das sind ja oft die Gebiete der ethnischen Gruppen. Wir dürfen nicht unterschätzen, wie gut vernetzt sie sind und wie viel Einfluss sie haben. Wie viel sie bewirken können.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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