Mathieu von Rohr

Die Lage am Morgen Will Erdoğan die Nato sabotieren – oder erpressen?

Mathieu von Rohr
Von Mathieu von Rohr, Leiter des SPIEGEL-Auslandsressorts

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um den türkischen Präsidenten, der Finnland und Schweden die Aufnahme in die Nato verweigern will. Außerdem geht es um die Soldaten im Stahlwerk von Mariupol – und um die neue französische Premierministerin, erst die zweite in der Geschichte der Republik.

Die Türkei blockiert die Nato-Erweiterung

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will die große Beitrittsparty stören: Am Montag erneuerte er seine Absage an einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden – der einstimmig beschlossen werden muss, womit Erdoğan ein Vetorecht hätte. Der angebliche Grund: Die beiden skandinavischen Staaten würden »Terroristen« beherbergen und ihre Auslieferung verweigern – gemeint sind Mitglieder der kurdischen Terrororganisation PKK und der Gülen-Bewegung. Die Finnen und Schweden bräuchten sich nicht einmal herbemühen, beschied ihnen Erdoğan. Da stellt sich die Frage: Meint er das ernst – und was ist der wahre Grund?

Erdoğan am Montag in Ankara

Erdoğan am Montag in Ankara

Foto:

Burhan Ozbilici / AP

Will Erdoğan gar dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Gefallen erweisen, mit dem ihn ein kompliziertes Verhältnis verbindet? Geht es ihm tatsächlich um Kurden und Gülenisten? Oder will Erdoğan sich seine Zustimmung nur teuer bezahlen lassen, etwa mit amerikanischen Waffensystemen und F-35-Flugzeugen? Letzteres scheint jedenfalls nicht unwahrscheinlich, und Erdoğans Nein wird kaum sein letztes Wort gewesen sein.

Sollte er wirklich daran festhalten und damit eine internationale Krise provozieren, wird der Druck auf die Türkei enorm zunehmen. Ein Partner, der zum wiederholten Mal seine Verbündeten erpresst, wird dadurch nicht attraktiver. Aber noch haben die USA auf die Drohgebärden aus Ankara gar nicht reagiert.

Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson gibt am Montag die Entscheidung ihres Landes bekannt, der Nato beizutreten

Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson gibt am Montag die Entscheidung ihres Landes bekannt, der Nato beizutreten

Foto: Henrik Montgomery/TT / AP

In Skandinavien lässt man sich davon bisher nicht aus der Ruhe bringen: Der finnische Präsident Sauli Niinistö ist heute auf Staatsbesuch in Schweden, auf Einladung von König Carl XVI. Gustaf, um mit Regierung und Königsfamilie über den Nato-Beitritt zu sprechen. Und in Moskau? Von dort verlauten zwar drohende Sätze nach dem Motto, die beiden Länder würden damit ihre Sicherheit nicht erhöhen.

Doch wenn man bedenkt, dass sich durch deren Beitritt die gemeinsame Grenze von Russland und Nato-Staaten von 800 Kilometer auf 2100 Kilometer erhöhen würde, ist die russische Reaktion auffallend zurückhaltend. Ein weiteres Zeichen dafür, dass der wahre Grund für den Angriff auf die Ukraine nicht deren ohnehin in weiter Ferne liegender möglicher Nato-Beitritt war. Sondern der imperialistische Wille Putins, sich ein Land und ein Volk untertan zu machen, das sich kulturell und politisch dem Westen annäherte – und das er als sein Eigentum betrachtete.

Olaf Scholz und sein Nichtbesuch in Kiew

Die Weigerung von Bundeskanzler Olaf Scholz, nach Kiew zu fahren, wird zu einer Never-Ending-Story: Zuerst berichteten Bundestagsabgeordnete, die aus Solidarität in die damals noch umkämpfte ukrainische Hauptstadt fahren wollten, man habe aus dem Bundeskanzleramt heraus Druck auf sie ausgeübt, das bitte nicht zu tun. Die FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann erzählte, eine dem Kanzler nahestehende Person, habe ihre geplante Reise als »Kriegstourismus« bezeichnet.

Kanzler Scholz im Willy-Brandt-Haus

Kanzler Scholz im Willy-Brandt-Haus

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Die Unlust von Scholz, zur Unterstützung der Ukraine nach Kiew zu fahren, drückte sich lange nur in demonstrativem Schweigen zu der Frage aus. Später behauptete er, die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stehe dem Besuch im Weg. Kurz darauf telefonierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Steinmeier, die Sache war ausgeräumt, nun hätte Scholz also fahren können. Doch nun gibt es seit Kurzem einen neuen Grund. Im Interview mit RTL sagte er gestern Abend: »Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge

Kanadas Premier Trudeau fuhr vergangene Woche zu Selenskyj – ob er dort »ganz konkrete Dinge« zu tun hatte, ist nicht überliefert

Kanadas Premier Trudeau fuhr vergangene Woche zu Selenskyj – ob er dort »ganz konkrete Dinge« zu tun hatte, ist nicht überliefert

Foto: IMAGO/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS OFF / IMAGO/UPI Photo

Ganz klar, immer wenn der Bundeskanzler eine Reise oder einen Staatsbesuch unternimmt, geht es »um ganz konkrete Dinge«. Nie geht es um Symbolik, nie ist der Besuch selbst die Botschaft. Dringt mein Sarkasmus zu Ihnen durch?

Natürlich ginge es bei einem Besuch in Kiew um genau das: um eine Demonstration der Solidarität, wie viele internationale Politiker sie mittlerweile unternommen haben (und die Scholz damit indirekt ebenfalls kritisiert). Warum scheut der Bundeskanzler davor so zurück?

Was ebenfalls seltsam ist an der Geschichte: Warum muss Olaf Scholz dauernd neue Gründe produzieren, um nicht nach Kiew zu fahren?

Man kann konstatieren: Die fortgesetzte Weigerung von Scholz, Kiew zu besuchen, ist symbolisch mittlerweile genauso bedeutsam, wie es ein Besuch gewesen wäre – nur mit der entgegengesetzten Botschaft.

Das Ende der Verteidigung von Mariupol?

Am 82. Tag des russischen Kriegs gegen die Ukraine, nach Monaten der Belagerung, haben viele der ukrainischen Verteidiger des Industriekomplexes »Azovstal« in der Stadt Mariupol am Schwarzen Meer die Waffen gestreckt – auf Anordnung von Präsident Selenskyj, so gab dieser bekannt.

Russischer Beschuss des Asow-Stahlwerks am Sonntag

Russischer Beschuss des Asow-Stahlwerks am Sonntag

Foto: Anton Gerashchenko / Ministry of Defence of Ukraine / Cover-Images / IMAGO

Das Azow-Regiment, das den Komplex zuletzt hauptsächlich verteidigte (davor hatte die ukrainische Marine in erster Linie um die Stadt gekämpft), gab bekannt: Um Leben zu retten, führe man die Entscheidung des obersten militärischen Kommandos aus und hoffe auf die Unterstützung des ukrainischen Volkes. Später waren Videoaufnahmen von Bussen zu sehen, in denen Hunderte ukrainische Kämpfer aus der Stadt gebracht wurden – nach ersten Berichten offenbar ins russisch besetzte Gebiet.

Die Verteidiger des vollständig zerstörten Asow-Stahlwerks hatten in den labyrinthischen Gängen zuletzt unter grauenvollen Bedingungen vegetiert. Es gab keine Versorgung mit Medikamenten mehr und Berichte über Amputationen im großen Stil. (Hier finden Sie einen grafischen Überblick über die Situation.)  Ehefrauen von Kämpfern waren auf einer Unterstützungstour zuletzt durch westliche Hauptstädte gereist. Der SPIEGEL hat vor zwei Wochen umfangreich mit Zeugenaussagen über das Leben im Innern des Komplexes berichtet.  

Verwundete ukrainische Soldaten werden gestern Abend in einem Bus aus dem Asow-Stahlwerk abtransportiert

Verwundete ukrainische Soldaten werden gestern Abend in einem Bus aus dem Asow-Stahlwerk abtransportiert

Foto: ALEXANDER ERMOCHENKO / REUTERS

Im Westen und in der russischen Propaganda spielte in der Diskussion eine große Rolle, dass viele ukrainische Verteidiger dem umstrittenen »Azow«-Regiment angehören, das rechtsextreme Wurzeln hat. Hier können Sie unsere differenzierte Analyse zu der Frage lesen , ob sich »Azow« wie behauptet von diesem Gedankengut losgesagt hat – die Kurzfassung: Es ist kompliziert. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer stand diese Diskussion allerdings nie im Vordergrund – für sie zählte in erster Linie, dass die Kämpfer Mariupol verteidigten. Eine Stadt, in der Russland wohl wie in keiner zweiten grausame Kriegsverbrechen begangen hat, und in der nach Aussagen des Bürgermeisters mehr als 20.000 Zivilisten getötet wurden. Mit der Aufgabe des Stahlwerks endet nun auch der letzte Widerstand in Mariupol  – aber nicht der Widerstandsgeist der Ukrainer, die im Nordosten bei der Stadt Charkiw teilweise bereits ihr Territorium bis hin zur russischen Grenze zurückerobert haben.

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

  • Das geschah in der Nacht: Aus den Regionen Luhansk und Donezk werden zahlreiche Opfer gemeldet. Die Evakuierungen in Mariupol gehen weiter. Und: scharfe Kritik an der russisch-orthodoxen Kirche. Der Überblick

  • Warum Putin wohl 485 Soldaten an einem ukrainischen Fluss verloren hat: Weil die Ukrainer den Russen die Wege abschneiden, kommt die Offensive in der Ostukraine kaum voran. Bei einem Angriff sollen viele Soldaten gefallen sein. Der Kreml muss seine Kriegsziele wohl zurückschrauben. 

  • Hat Russland wirklich Phosphorbomben eingesetzt? Videos in den sozialen Netzwerken sollen den Beschuss des Asow-Stahlwerks in Mariupol mit Phosphorbomben zeigen. Doch Experten melden Zweifel an. 

  • Der russlandtreue Milliardär aus dem Saarland: Vom US-Kapitalismus hält er wenig, dafür schwärmt er von der »russischen Seele«: Thomas Bruch ist Seniorchef des deutschen Handelsgiganten Globus – und bleibt trotz Krieg in Putins Reich aktiv. Wie rechtfertigt er das? 

Die Karriere einer rechten Verschwörungserzählung

Wieder hat ein von rassistischem Gedankengut motivierter Schütze in den USA Menschen getötet. Wieder hat er nach dem Vorbild anderer Rechtsterroristen seine Tat live gestreamt und ein 180-seitiges Manifest hinterlassen, in dem er sich als »weißen Suprematisten« bezeichnete, der möglichst viele Schwarze töten wollte. Eine grauenvolle Tat. Auf diesen nicht mehr ganz neuen Typus des Attentäters reagiert man am besten mit Aufmerksamkeitsentzug und konsequenter Überwachung rechtsextremer Milieus.

In Buffalo werden Blumen für die Opfer vor einem Supermarkt niedergelegt

In Buffalo werden Blumen für die Opfer vor einem Supermarkt niedergelegt

Foto: Matt Rourke / AP

Besorgniserregender ist, wie sich eine Verschwörungserzählung aus diesem radikalen Milieu nicht nur in den USA zunehmend den Weg in den rechten Mainstream bahnt: die sogenannte »great replacement theory« oder »Umvolkungstheorie«, die einen angeblich von den Eliten geplanten Bevölkerungsaustausch behauptet, in dem Weiße durch Nichtweiße ersetzt werden sollen – ein Märchen, erfunden vom französischen Rechtsextremen Renaud Camus, das Migrationsbewegungen als Teil einer großen Verschwörung darstellt.

»Personalwechsel«: Autor Tellkamp

»Personalwechsel«: Autor Tellkamp

Foto: Sebastian Kahnert / dpa

Diese Wahnidee wird in den USA vom erfolgreichten Fox-News-Star Tucker Carlson verbreitet, hat aber zunehmend auch unter republikanischen Politikern Zulauf. In Frankreich hat Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour sie verbreitet. Und in Deutschland hat jüngst der Schriftsteller Uwe Tellkamp, der sich rechtsextremem Gedankengut annähert, in einem Interview mit der »SZ« auf die Frage nach seiner Nähe zum Begriff »Umvolkung« geantwortet, man könne ja auch »Personalwechsel« sagen. Diese rechtsextremen Wahnvorstellungen sind nicht nur in den Köpfen amoklaufender 18-Jähriger, sie sickern in die Gesellschaft ein und vergiften im rechtsnationalen Milieu die Gedanken.

Gewinnerin des Tages…

Madame la Première ministre: Élisabeth Borne nach ihrer Ernennung im Hôtel de Matignon

Madame la Première ministre: Élisabeth Borne nach ihrer Ernennung im Hôtel de Matignon

Foto: POOL / REUTERS

…ist Élisabeth Borne, die neue Premierministerin von Frankreich. Sie ist erst die zweite Frau an der Spitze der Republik – 30 Jahre nach der glücklosen Édith Cresson, die unter Präsident François Mitterrand nur rund zehn Monate im Amt war. Die Rolle von Premierministern in Frankreich ist nicht ganz so unbedeutend, wie es von außen oft scheint, insbesondere in der Innenpolitik. Doch Präsidenten tauschen sie gern aus, um damit politische Signale zu setzen und eine neue Phase einzuläuten. Präsident Emmanuel Macron ernannte Borne am Montag nach dem erwarteten Rücktritt ihres Vorgängers Jean Castex – zum idealen Zeitpunkt: nach den Präsidentschaftswahlen, vor den Parlamentswahlen im Juni. Die neue Premierministerin soll dem Präsidenten im Wahlkampf helfen, seine Mehrheit zu sichern, was bisher allgemein erwartet wird – auch danach würde sie wohl im Amt bleiben. Borne gilt als höchst loyal, ihre Aufgabe wäre es dann, die nächsten Reformprojekte des Präsidenten umzusetzen.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

  • »Wer anderen hilft, ist glücklicher«: Sie packten beim Wiederaufbau im Ahrtal mit an, nun bringen sie Lebensmittel und Decken für die Ukraine nach Polen. Hilfe ist für Faris Allahham und Anas Alakkad zum Lebensinhalt geworden. Wie lange halten sie das durch? 

  • Was wir unseren Kindern geben können, damit sie gut durchs Leben kommen: Natürlich wollen wir unsere Kinder beschützen. Aber wir sollten lernen, ihnen etwas zuzutrauen. Denn nur wer die Erfahrung machen darf, etwas geschafft zu haben, blickt mit Selbstvertrauen in die Zukunft .

  • Warum so viele Auswanderer wieder nach Deutschland kamen: Tausende Deutsche machten im Wilden Westen ihr Glück, doch jeder Fünfte ging nach Europa zurück – so wie Emilie Peters von der Nordseeinsel Föhr. Die Heimkehrer galten nicht als gescheitert, im Gegenteil .

  • »Vielleicht ist das der Preis, den ich für meinen Traum zahlen musste«: Bruno Rodriguez hat für Paris Saint-Germain und Monaco gespielt. Viele seiner Verletzungen wurden mit Cortison behandelt. Doch die Schmerzen nahmen zu, bis er nur einen radikalen Ausweg sah .

  • Wozu braucht man eine Bier-Giraffe? Die ersten Vorbereitungen für die traditionellen Männer-Ausflüge laufen. Heiko Höhn, 47, Betreiber der Website vatertagstour.de, weiß, wie der Tag gelingt – ob mit Trinkhelm oder ohne .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Mathieu von Rohr

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