
Die Lage am Morgen Jetzt hat Wladimir Putin die jubelnden Ukrainer auf den Straßen

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Bewohner von Cherson, die ihre Befreiung durch ukrainische Truppen feiern. Außerdem befassen wir uns mit dem G20-Gipfel und dem Bemühen von Olaf Scholz und Robert Habeck, sich von China zu lösen. Außerdem: Was macht Elon Musk mit Twitter?
Ohne Strom, aber frei: die Bewohner von Cherson
Als Wladimir Putin am 24. Februar seine Armee auf die Ukraine losschickte, glaubte er erstens, die Sache wäre binnen drei Tagen erledigt. Zweitens ließen seine Geheimdienste ihn glauben, die russischen Soldaten würden auf den Straßen Kiews von jubelnden Menschen als Befreier begrüßt. Es kam – wie wir wissen – ganz anders.
Nun gab es an diesem Wochenende tatsächlich ähnliche Bilder, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Es waren ukrainische Soldaten, die von den Menschen mit Jubel auf den Straßen als Befreier begrüßt wurden. Und zwar in der südukrainischen Stadt Cherson, der einzigen Bezirkshauptstadt, die Russlands Truppen nach Februar je einnehmen konnten.

Feiernde Einwohner von Cherson am Samstag
Foto: Yevhenii Zavhorodnii / REUTERSGestern Abend berichtete mir SPIEGEL-Reporter Alexander Sarovic, der seit Sonntag zusammen mit Korrespondent Christian Esch und einem SPIEGEL-Team in Cherson ist: »Die Menschen sind froh und erleichtert, sie haben sich im Zentrum versammelt und feiern die Truppen. Sie sind noch ohne Strom und Wasser, und einige haben Angst, dass die Stadt bald beschossen werden könnte. Aber die Freude überwiegt, die Leute atmen auf.« Hier können Sie die Eindrücke der Kollegen auf Video sehen:
Wer Russisch spricht, will deswegen nicht zu Russland gehören
Noch vor wenigen Wochen ließ Putin Cherson mit großem Pomp als Teil Russlands annektieren. Trotz aller Nukleardrohungen ist die russische Armee hier am Ende einfach abgezogen. Im Video meiner Kollegen können Sie sehen, wie nun in der Stadt die großen Poster wieder entfernt werden, auf denen stand: »Für immer mit Russland«. Manchmal dauert die Ewigkeit nur wenige Wochen.
Aus heutiger Perspektive ist noch rätselhafter, warum Putin die Einverleibung dieser Stadt inszenierte: Schon bei der »Annexion« war absehbar, dass sich die auf der Westseite des Flusses Dnipro gelegene Stadt militärisch kaum halten lassen würde. Zudem gab es in Cherson von Anfang an starken Widerstand gegen die Besatzung: Demonstrationen und Partisanenangriffe. Die verkündete Zahl von 87 Prozent Zustimmung zur Annexion im russischen Scheinreferendum war deshalb unschwer als Fantasie erkennbar. Obwohl in der Stadt mehrheitlich Russisch gesprochen wird, wollten sehr viele Menschen dort nicht zu Russland gehören – diese vereinfachende Gleichsetzung von Sprache und Nationalität stimmte nicht nur in der Ukraine noch nie.

Die zerstörte Antoniwkabrücke bei Cherson – der Fluss Dnipro markiert die neue Frontlinie zwischen ukrainischen und russischen Truppen
Foto: Libkos / APDas Leben in der Stadt wird in den nächsten Wochen sicherlich bitter werden: Die Russen haben die Stromversorgung zerstört und auf der gegenüberliegenden Flussseite ihre Artillerie in Stellung gebracht. Doch auch wenn nun der Winter heranrückt, der die Kampfhandlungen teilweise erschweren könnte, so kann es mit den ukrainischen Rückeroberungen in den nächsten Wochen durchaus noch weitergehen: Im Donbass rücken Kiews Truppen dieser Tage auf russische Nachschublinien bei Swatowe vor – und zunehmend ist die Rede von einer möglichen ukrainischen Offensive im Süden von Saporischschja in Richtung der Stadt Melitopol.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
Das geschah in der Nacht: Kiew will Hunderte Kriegsverbrechen der Russen dokumentiert haben. Präsident Selenskyj ruft die Bevölkerung zum Durchhalten auf. Und: klare Worte des Bundeskanzlers an den Kremlchef. Der Überblick.
»Wir alle spüren, wie unser Sieg naht«: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dankt Soldaten und Ärzten für ihre Unterstützung bei der Rückeroberung Chersons. Schuldige von Gräueltaten will er zur Verantwortung ziehen.
»Russland gibt noch lange nicht auf«: Die Rückeroberung der Gebietshauptstadt Cherson wird auch vom Westen als außergewöhnlicher Sieg gefeiert. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace aber warnt: Moskau sei weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben.
In Bali treffen Joe Biden und Xi Jinping aufeinander
Diese Woche steht im Zeichen des G20-Gipfels auf Bali: Der russische Präsident Wladimir Putin hat seine Teilnahme abgesagt und damit die übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der Frage entbunden, ob und wie sie ihm öffentlich die Hände schütteln wollen. Am wichtigsten ist aber in jedem Fall das erste persönliche Aufeinandertreffen des chinesischen Präsidenten Xi Jinping mit seinem amerikanischen Gegenüber Joe Biden seit 2020. Für Xi ist es eine seiner ersten Reisen außerhalb Chinas seit Corona, für Biden ist die Reise eine Art Siegerparade nach dem unerwartet guten Abschneiden der Demokraten bei den Midtermwahlen.

US-Präsident Joe Biden wird am Sonntag auf Bali willkommen geheißen
Foto: Alex Brandon / APDie beiden Staatschefs treffen sich ausgerechnet in der Weltregion, in der die USA und China schon seit Jahren und immer intensiver um Einfluss ringen – im Pazifik. Unser Korrespondent Bernhard Zand hat in den vergangenen Monaten eine Reise in dieser Weltregion unternommen, die in chinesischen Atlanten nicht rechts am Rand abgebildet wird, sondern als Mittelpunkt der Welt. Und dazu wird er nun zunehmend auch tatsächlich. Lesen Sie Zands Bericht über das Kräftemessen der beiden Supermächte hier:
Wie Scholz und Habeck mit Chinas Nachbarn flirten
In Singapur nimmt heute Bundeskanzler Olaf Scholz, auf seinem Weg zum G20-Gipfel, gemeinsam mit Wirtschaftsminister Robert Habeck am Asien-Pazifik-Gipfel der deutschen Wirtschaft teil. Beide senden dort die gleiche Botschaft aus: Deutschland möchte sich vorsichtig aus der einseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit von China befreien. Das wollte Scholz auch bereits mit seinem Besuch in Vietnam am Sonntag beweisen, wo er Premierminister Pham Minh Chinh traf. Man wolle »Absatzmärkte, Rohstoff-Quellen und Produktionsstandorte erweitern«, um »unabhängiger von einzelnen Staaten« zu werden, twitterte Scholz danach.

Bundeskanzler Scholz am Sonntag in Hanoi
Foto: Kay Nietfeld / dpaNur: Wie ernst ist es ihm damit? Nachdem er sich gegen alle beteiligten Ministerien für eine chinesische Minderheitsbeteiligung an einem Hamburger Containerterminal eingesetzt hat, ist das immer noch unklar. Scholz wendet sich öffentlich immer wieder gern gegen eine vollständige Abkoppelung von China – die allerdings auch niemand fordert: Es geht im Moment eher darum, dass Deutschland wirtschaftlich nicht mehr komplett von China abhängig ist.
Habeck wurde in Singapur am Wochenende etwas deutlicher: 30 Jahre lang sei das Prinzip der deutschen Handelspolitik eine unpolitische Sicht auf China gewesen, sagte er – nun sei die Sicht extrem politisch. Die Chefs der großen deutschen Konzerne wie BASF und Siemens tun sich mit Veränderungen noch schwer: Einige von ihnen veröffentlichten vor wenigen Tagen gemeinsam einen offenen Brief in der »FAZ« – mit dem Aufruf, die deutsche Wirtschaft von China nicht abzuschneiden (was aber, wie gesagt, niemand fordert).
Twitter: Elon Musks großer Auffahrunfall
Ebenfalls am G20-Gipfel teilnehmen wird der reichste Mann der Welt: Elon Musk. Allerdings nur virtuell. Dass er nicht persönlich hinreist, verwundert nicht. Schließlich hat er gerade sehr viel anderes zu tun: Seine Übernahme von Twitter, für das er 45 Milliarden US-Dollar bezahlt hat, fühlt sich für viele Nutzerinnen und Beobachter wie ein endloser Auffahrunfall an.

Vor allem hat Musks Entscheidung, dass jeder sich für monatlich acht Dollar einen Verifikations-Badge kaufen kann, zu einer Unzahl von Identitätsfälschungen auf der Plattform geführt – nun kann jeder sich mit blauem Haken als öffentliche Figur ausgeben. Sogar »Jesus« wurde verifiziert, und echt wirkende Accounts von Firmen wie Eli Lilly oder BP Global verbreiteten rufschädigende Nachrichten im Namen der Unternehmen.
Unter Musk verbreitet sich nicht nur Desinformation sehr viel leichter, auch die Brands der Werbekunden sind dadurch nicht mehr geschützt: Viele Firmen haben Werbung auf Twitter pausiert – und Anzeigen machten bisher 90 Prozent der Einnahmen aus. Einem US-Senator, der sich über einen offiziell wirkenden Nachahmeraccount beschwerte, schleuderte Musk patzig entgegen: Sein offizieller Account wirke ja schon wie eine Parodie.
Was Musk mit dem Unternehmen vorhat, das er überteuert kaufte, ist vollkommen unklar: Sein Handeln wirkt erratisch. Weil Twitter ein öffentlicher Ort ist, weil Twitter so politisch ist, ist Musk erstmals einer großen Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig. Bisher scheint er damit nicht sonderlich gut umgehen zu können.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Gewinner des Tages…
…ist die Demokratische Partei von Joe Biden. Sie hat bei den Midtermwahlen nun offiziell die Mehrheit im US-Senat verteidigt; bei der Stichwahl in Georgia im Dezember könnte sie sogar einen Sitz hinzugewinnen. Im Repräsentantenhaus wird die Partei die Mehrheit wohl knapp verfehlen (sicher ist das aber noch immer nicht; noch immer sind nicht alle Wahlkreise ausgezählt). So oder so ist jetzt schon klar, dass dieses Jahr als eine der wenigen Ausnahmen in die US-Wahlgeschichte eingehen wird: Wie zuvor 1934, 1962, 1998 und 2002 schneidet die Präsidentenpartei (die üblicherweise krachend verliert) wegen besonderer Umstände unerwartet gut ab.

Feiernder Präsident Biden mit Ehefrau Jill bei einer Veranstaltung der Demokraten in Washington, zwei Tage nach den Midterms
Foto: Mandel Ngan / AFPDie Demokraten halten den Senat, die Republikaner können im Repräsentantenhaus höchstens auf eine hauchdünne Mehrheit hoffen; Trumps wichtigste Alliierte wurden bei den Wahlen fast alle abgestraft. Und in keinem entscheidenden Swing State wurde ein Wahlleugner (die Trumps Niederlage 2020 bestreiten) zum obersten Wahlbeamten gewählt.
Das ist ein Zeichen, dass die Amerikaner mehrheitlich ihre Demokratie verteidigen wollen und die autokratischen Tendenzen in der republikanischen Partei zurückweisen. Die Frage ist nun, wie die Demokraten mit diesem unerwartet guten Ergebnis in die Präsidentschaftswahl 2024 ziehen wollen: Soll der wenig beliebte und oft tatterig wirkende Präsident Joe Biden einer Jüngeren oder einem Jüngeren Platz machen? Nach dem Ergebnis bei den Midterms wirkt das noch weniger wahrscheinlich: Der Präsident hat mit seiner Partei schließlich einen Erfolg errungen, er würde 2024 den Bonus des Amtsinhabers preisgeben – und eine hoffnungsvolle Alternative drängt sich zumindest bisher nirgends auf. Umgekehrt müssen die Republikaner sich schon bald entscheiden, ob sie sich von Donald Trump abwenden oder an ihm festhalten: Gerüchteweise will er bald seine Kandidatur verkünden.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Anschlag in Istanbul – Polizei nimmt tatverdächtige Person fest: Im Istanbuler Stadtzentrum sind sechs Menschen durch eine Bombenexplosion getötet worden. Bei der Suche nach den Verantwortlichen meldet der türkische Innenminister nun einen Erfolg – und macht die PKK verantwortlich.
Vorstoß zum Ende der Maskenpflicht in Bussen und Bahnen von Schleswig-Holstein sorgt für Streit: Ende des Jahres endet in dem Bundesland die Vorgabe für das Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln – und soll nicht verlängert werden. Auf Bundesebene bahnt sich deshalb Ärger an.
Nataša Pirc Musar ist die erste Frau an Sloweniens Staatsspitze: In der Stichwahl um das Amt des Staatsoberhauptes in Slowenien setzt sich die Linksliberale gegen ihren rechten Kontrahenten Anže Logar durch.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Warum es bei der FDP immer noch zu viele Männer gibt: Die FDP hat ein Frauenproblem, nur noch 20 Prozent ihrer Mitglieder sind weiblich. Der Parteinachwuchs fordert eine Abkehr von der Testosteronkultur, doch der Kulturwandel ist mühsam .
»...dann bricht die Hölle los«: 2022 litten so viele Menschen Hunger wie nie zuvor. Hier erklärt der Chef des Uno-Welternährungsprogramms, warum sich die Lage weiter zuspitzen könnte – und was die Weltgemeinschaft tun muss .
Ein Mann will Arbeit – um jeden Preis: Mit 17 fing er an zu arbeiten, mittlerweile ist Herr A. Metallarbeiter mit 34 Jahren Berufserfahrung – und verschenkt auf Ebay Kleinanzeigen seinen Metalldetektor. Er will dafür ein Jobangebot. Warum?
Warum Hitler die Umbenennung der Fledermaus verhinderte: Zoologisch gehören Fledermäuse und Spitzmäuse nicht zur Gattung Mäuse. 1942 wollte eine Forschergruppe den Tieren die Namen »Fleder« und »Spitzer« geben – und verärgerte den NS-Diktator .
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Mathieu von Rohr
Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieses Textes hieß es zunächst, Cherson liege auf der Ostseite des Dnipro, es ist aber die Westseite. Wir haben den Fehler korrigiert.