Krieg in Osteuropa Selenskyj bittet um 55 Milliarden US-Dollar, Frankreich liefert Haubitzen und Luftabwehr

Russisches Kriegsschiff feuert Raketen in Richtung der Ukraine ab (Aufnahme auf den 10. Oktober datiert)
Foto:AP
Was in den vergangenen Stunden geschah
Der ukrainische Generalstab hat weitere russische Raketen- und Luftangriffe auf Wohnhäuser und Objekte der zivilen Infrastruktur registriert. Im abendlichen Lagebericht aus Kiew war die Rede von drei Raketenangriffen und vier Fällen von Beschuss durch Flugzeuge. Zehn Mal seien Mehrfachraketenwerfer eingesetzt worden. Von den zehn getroffenen Zielen lagen die meisten in den frontnahen Gebieten Saporischschja und Mykolajiw im Süden.
Außerdem setze die russische Armee weiter Kampfdrohnen iranischer Bauart ein, von denen zehn abgeschossen worden seien. Die ukrainischen Militärangaben waren nicht unabhängig überprüfbar. Aus dem zentralukrainischen Gebiet Winnyzja meldete die Zivilverwaltung, dass zwei solcher Drohnen abgefangen worden seien.
Das sagt Kiew
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat internationale Geldgeber um weitere Hilfen in Höhe von bis zu 55 Milliarden US-Dollar gebeten. Das Geld werde benötigt, um das erwartete Haushaltsdefizit im kommenden Jahr abzudecken, sagte er in einer Videoansprache vor Finanzministern bei den Jahrestreffen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). 17 Milliarden Dollar würden benötigt, um mit dem Wiederaufbau der kritischen Infrastruktur zu beginnen. »Je mehr Hilfe die Ukraine jetzt erhält, desto schneller wird der russische Krieg zu Ende gehen«, so der Politiker.

Wolodymyr Selenskyj
Foto: Ukrainian Presidential Press Off / dpaSelenskyj begrüßte zudem neue internationale Zusagen von Waffen zur Flug- und Raketenabwehr für sein Land. Das Treffen der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe in Brüssel vom Mittwoch sei in dieser Hinsicht »ziemlich produktiv« verlaufen, sagte er in seiner Videoansprache. »Ich bin denjenigen unserer Partner dankbar, die bereits beschlossen haben, genau diese Unterstützung für unseren Staat zu verstärken – Unterstützung für eine effektive Flugabwehr«, sagte Selenskyj. Je brutaler der russische Raketenterror werde, desto mehr verstehe die Welt, dass der Schutz des Himmels über der Ukraine »eine der wichtigsten humanitären Aufgaben Europas in unserer Zeit ist«.
Die Ukraine hat laut Selenskyjs Worten die Kraft, den Krieg gegen den Angreifer Russland fortzusetzen. »Wir haben mutige Menschen, wir haben tapfere Soldaten«, sagte der 44-Jährige laut Übersetzung in einem ZDF-Interview. »Keiner verliert gern, keiner will als Verlierer dastehen(...). Wir können es uns nicht leisten, zu verlieren, das ist eine Frage des Überlebens für uns.«
Waffenlieferungen an die Ukraine
Die britische Regierung will erstmals Luftabwehrraketen vom Typ Amraam an die Ukraine liefern. Die Raketen, die in Verbindung mit dem von den USA versprochenen Nasams Luftabwehrsystem zum Abschuss von Cruise Missiles geeignet sind, sollen in den kommenden Wochen in die Ukraine gebracht werden. Das teilte das Verteidigungsministerium in London mit. »Die Raketen werden dabei helfen, die kritische Infrastruktur der Ukraine zu schützen«, hieß es in der Mitteilung am Donnerstag.
Frankreich hat der Ukraine ebenfalls die Lieferung von Luftabwehrsystemen zugesagt. »Wir werden Radargeräte, (Luftabwehr-)Systeme und Raketen liefern«, um die Ukrainer »insbesondere vor Drohnenangriffen zu schützen«, sagte Präsident Emmanuel Macron dem Sender France 2. Macron bekräftigte zudem, Frankreich wolle der Ukraine weitere Caesar-Haubitzen zukommen lassen.
Seit Kriegsbeginn seien bereits 18 Haubitzen geliefert worden, sagte der französische Staatschef. »Wir arbeiten zusammen mit Dänemark gerade an der Lieferung von sechs zusätzlichen Haubitzen.« Diese waren demnach ursprünglich für die dänische Armee bestimmt gewesen. Die Ukraine hatte nach zwei Tagen intensiven russischen Beschusses ihre westlichen Verbündeten um Unterstützung bei der Stärkung ihrer Luftabwehr gebeten.
Auch Kanada kündigte weitere Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von umgerechnet etwa 35 Millionen Euro an. Dazu gehörten Artillerie-Munition, Winterkleidung und Drohnenkameras. Das erklärte Verteidigungsministerin Anita Anand.
Humanitäre Lage
Seit Beginn des Krieges ist auch die Zahl der in Deutschland aufgenommenen männlichen Flüchtlinge aus der Ukraine gestiegen. Am Geschlechterverhältnis hat sich aber nichts geändert. Wie aus Zahlen des Bundesinnenministeriums hervorgeht, sind von den im Ausländerzentralregister gespeicherten erwachsenen Kriegsflüchtlingen aktuell 468.652 Frauen. Das entspricht einem Anteil von rund 72 Prozent.
Die AfD-Fraktion hatte über eine parlamentarische Anfrage herausfinden wollen, wie viele Ukrainer im wehrfähigen Alter – laut den Gesetzen ihres Heimatlandes betrifft das Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren – aktuell in Deutschland leben. In der Antwort der Bundesregierung heißt es, Ende August seien die Daten von rund 162.000 ukrainischen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren im Ausländerzentralregister (AZR) gespeichert gewesen. Die AZR-Daten sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, weil es möglich ist, dass ein Teil der dort Registrierten Deutschland inzwischen wieder verlassen hat.
Internationale Reaktionen
Die Uno-Vollversammlung hat mit großer Mehrheit Russlands »illegale Annexionen« in der Ukraine verurteilt. 143 der 193 Uno-Mitgliedstaaten stimmten am Mittwoch auf einer Dringlichkeitssitzung für eine entsprechende Resolution, fünf dagegen. 35 Staaten enthielten sich, darunter China, Indien, Südafrika und Pakistan.
Anfang März hatten bereits 141 Staaten für eine Resolution gestimmt, in der Russland zum »sofortigen« Abzug aus der Ukraine aufgefordert wurde. Bangladesch, der Irak und Senegal, die sich im März enthalten hatten, stimmten am Mittwoch für die Resolution. Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien und Nicaragua lehnten die Resolution ab.
In favour: 143
— United Nations (@UN) October 12, 2022
Against: 5
Abstentions: 35
UN General Assembly overwhelmingly adopts resolution calling on countries to reject Russia's attempted annexation of four regions of Ukraine following disputed referendums held late last month. https://t.co/NJO3O1plD1 pic.twitter.com/rCcZ9PyfgL
Die neue Resolution verurteilt die sogenannten »Referenden« Russlands in den besetzten Gebieten in der Ukraine sowie die darauffolgende Annexion der Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja. Sie fordert alle Uno- und internationalen Organisationen auf, die Annexionen nicht anzuerkennen, und verlangt von Moskau die »sofortige und bedingungslose Rücknahme« seiner Entscheidungen.
US-Außenminister Antony Blinken erklärte, die Abstimmung zeige die internationale Einigkeit gegen Russland und bekräftigte, Washington werde die Scheinreferenden niemals anerkennen. Die Abstimmung sei eine »Erinnerung daran, dass die überwältigende Mehrheit der Nationen an der Seite der Ukraine steht«, erklärte Blinken.
Frankreichs Präsident Macron setzt weiter auf eine diplomatische Lösung des Krieges. »Wladimir Putin muss diesen Krieg beenden, die territoriale Integrität der Ukraine respektieren und an den Verhandlungstisch zurückkehren«, sagte Macron am Mittwochabend. »Ich glaube, dass es irgendwann im Interesse Russlands und der Ukraine ist, an den Verhandlungstisch zurückzukehren und zu verhandeln.« Die Frage stelle sich dann, ob Kriegsziele wie die territoriale Integrität der Ukraine nur militärisch erreicht werden können.
Wirtschaftliche Konsequenzen
Der Krieg wird einer Beratungsgesellschaft zufolge den Erdgasverbrauch in Europa auf Jahrzehnte verringern. Wie das in Norwegen beheimatete Unternehmen DNV in seinem jährlichen Bericht mitteilt, wird nun ein Verbrauch von 170 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2050 erwartet. Vor einem Jahr sei man noch von 310 ausgegangen. »Die Energieversorgungssicherheit zwingt Europa dazu, die Effizienz des Systems zu erhöhen und die Produktion erneuerbarer Energien zu steigern«, sagte der zuständige DNV-Direktor Sverre Alvik der Nachrichtenagentur Reuters.
Global gesehen werde der Krieg jedoch kaum Auswirkungen auf den Umstieg auf Erneuerbare haben: Bangladesch und Pakistan etwa hätten nicht die Mittel der europäischen Staaten und kehrten deswegen zur Kohle zurück.
Was heute passiert
Die Verteidigungsminister der Nato-Staaten beraten in Brüssel über den Umgang mit den Drohungen von Russlands Präsident Putin, im Krieg gegen die Ukraine auch Atomwaffen einzusetzen. Bei einem Treffen im Format der sogenannten Nuklearen Planungsgruppe soll es nach Angaben aus Bündniskreisen unter anderem um die Nato-Atomwaffenstrategie und Pläne zur Modernisierung der aktuellen Infrastruktur gehen.
Angesichts der Energiepreiskrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine berät der Bundestag über Entlastungen für Geringverdiener und Rentner. Auf der Tagesordnung des Plenums stehen die ersten Beratungen des geplanten Bürgergelds, der Wohngeldreform sowie der Energiepreispauschale für Rentnerinnen und Rentner. Mit dem Bürgergeld sollen Millionen Bedürftige ab 1. Januar mehr Geld sowie eine bessere Betreuung in den Jobcentern erhalten.
Der ukrainische Präsident spricht heute ab zehn Uhr per Videoschalte vor der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Im Anschluss diskutiert die Versammlung über die Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine.