Russischer Angriffskrieg Selenskyj fordert mehr Kriegsgefangene, Medwedew fabuliert über Zerschlagung der Ukraine

Mehr Gefangene = mehr möglicher Gefangenenaustausch: Diese Rechnung macht Präsident Selenskyj auf. Russlands Ex-Präsident legt absurden »Friedensplan« vor. Und: EU erhöht Druck auf China. Die jüngsten Entwicklungen.
Ukrainische Soldaten nahe Bachmut

Ukrainische Soldaten nahe Bachmut

Foto: LIBKOS / picture alliance / dpa / AP

Das sagt Kiew

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Truppen aufgerufen, mehr russische Soldaten gefangen zu nehmen. »Jeder an der Front sollte daran denken: Je mehr russische Kriegsgefangene wir nehmen, desto mehr unserer Leute werden zurückkehren«, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache.

Er begrüßte einen Gefangenenaustausch am Donnerstag, bei dem 106 ukrainische Militärangehörige von der russischen Seite übergeben worden seien. Sie hätten im Gebiet der inzwischen fast völlig zerstörten Stadt Bachmut gekämpft, sagte Selenskyj. Darunter seien acht Offiziere. Viele der zurückgekehrten Militärs hätten zuvor als vermisst gegolten. Moskau behauptet seit dem Wochenende, Bachmut erobert zu haben. Kiew bestreitet dies.

Wolodymyr Selenskyj

Wolodymyr Selenskyj

Foto: Heikki Saukkomaa / picture alliance/dpa/Lehtikuva/AP

Selenskyj machte keine Angaben dazu, wie viele Russen bei dem Austausch übergeben worden seien. Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgenij Prigoschin, veröffentlichte zuvor ein Video von einem Gefangenenaustausch.

Das sagt Moskau

Die Wagner-Gruppe hat nach Angaben ihres Chefs mit dem Abzug der eigenen Truppen aus Bachmut begonnen. Bis zum 1. Juni solle die Stadt komplett den regulären russischen Streitkräften zur Kontrolle überlassen werden, sagte Prigoschin in einem Video. Die Wagner-Truppen würden sich zur Erholung und Vorbereitung auf die nächsten Einsätze in ihre Lager zurückziehen. Nach einer Pause seien sie für neue Gefechtsaufgaben bereit, sagte Prigoschin.

Nach Darstellung Prigoschins sollen zwei erfahrene Wagner-Kämpfer zur Unterstützung der russischen Armee in Bachmut bleiben. Der Wagner-Chef und das russische Verteidigungsministerium hatten am Wochenende die komplette Einnahme der Stadt im Gebiet Donezk, die einmal 70.000 Einwohner hatte, verkündet. Prigoschin avisierte dabei auch den Rückzug ab 25. Mai.

Die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar sagte am Donnerstag, die Wagner-Truppen in den Vororten von Bachmut würden durch reguläre russische Soldaten ersetzt. Prigoschins Kämpfer seien aber noch in der Stadt selbst. Die ukrainischen Streitkräfte selbst würden derzeit die Vororte im Südwesten von Bachmut kontrollieren, sagte Maljar. Der Feind versuche, den Vormarsch der Kiewer Truppen an den Flanken durch Artilleriefeuer zu stoppen. Zudem zögen die Russen zusätzliche Kräfte zusammen, um ihre Flanken zu sichern, sagte sie.

Nach Darstellung Maljars wurden auch Vorstöße der russischen Truppen in verschiedenen Richtungen zurückgeschlagen und verhindert. Die Aktionen der Russen hätten keine Erfolge, meinte sie. Insgesamt bleibe der Osten des Landes das »Epizentrum« der russischen Angriffe. Die Angaben der Kriegsparteien zum Verlauf der Kämpfe lassen sich meist nicht unmittelbar unabhängig überprüfen.

Dmitrij Medwedew

Dmitrij Medwedew

Foto: Ekaterina Shtukina / dpa

Wie die russische Nachrichtenagentur Ria berichtet, könnte der Krieg nach Aussagen des russischen Ex-Präsidenten Dmitrij Medwedew Jahrzehnte dauern. Wie Medwedew gegenüber der Agentur erklärt, könnte es »drei Jahre Waffenstillstand geben, dann wieder zwei Jahre Konflikt und dann wird sich alles wieder wiederholen«. Der ehemalige Präsident und stellvertretende Vorsitzende von Putins Sicherheitsrat hat sich der Agentur zufolge im Rahmen eines Besuchs in Vietnam zum Thema geäußert.

Er lieferte auch gleich einen Vorschlag für einen dauerhaften Frieden in der Ukraine – der allerdings hinreichend absurd ausfällt. In Medwedews Szenario würden westliche Regionen der Ukraine mehreren EU-Staaten zugeschlagen und die östlichen Russland, während die Einwohner der zentralen Gebiete für den Beitritt zu Russland stimmen. In Europa würde eine ukrainische Exilregierung gebildet, so Medwedew.

Wenn hingegen ein Teil der Ukraine der EU oder der Nato beitreten sollte, sei mit einem Wiederaufflammen der Kampfhandlungen zu rechnen, »mit der Gefahr, dass es schnell in einen vollwertigen dritten Weltkrieg übergehen kann«, behauptete der Vertraute von Kremlchef Wladimir Putin.

Humanitäre Lage

Russland droht das bestehende Getreideabkommen über den sicheren Export aus drei ukrainischen Schwarzmeerhäfen in Kriegszeiten nicht über den 17. Juli hinaus verlängern zu wollen. Für ein Fortbestehen des Abkommens müssten erst bestimmte Forderungen erfüllt werden, wie das russische Außenministerium erklärt. Konkret handelt es sich dabei um die Wiederinbetriebnahme einer Pipeline, die russisches Ammoniak zum ukrainischen Schwarzmeerhafen Pivdennyi transportiert, sowie die Wiederanbindung der russischen Landwirtschaftsbank Rosselkhozbank an das internationale Zahlungsnetzwerk Swift.

Internationale Reaktionen

Die US-Regierung setzt den Landeschef der Privatarmee Wagner im afrikanischen Krisenstaat Mali, Iwan Maslow, auf ihre Sanktionsliste. »Die Präsenz der Wagner-Gruppe auf dem afrikanischen Kontinent ist eine destabilisierende Kraft für jedes Land, das den Einsatz der Ressourcen der Gruppe in seinem Hoheitsgebiet zulässt«, erklärte das US-Finanzministerium am Donnerstag in Washington zur Begründung. Maslow habe in Mali eng mit der Regierung zusammengearbeitet und auch Treffen zwischen Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin und anderen afrikanischen Regierungen organisiert.

DER SPIEGEL

Eine Folge der Sanktionen ist es, dass etwaige Vermögenswerte der Betroffenen in den USA eingefroren werden – Geschäfte mit ihnen werden US-Bürgern untersagt. Auch internationale Geschäfte werden meist deutlich schwieriger.

Die Europäische Union hat China aufgefordert, auf einen Rückzug Russlands aus der Ukraine hinzuwirken. Die EU erwarte von China, dass es an einem »sofortigen und bedingungslosen Abzug aller russischen Streitkräfte und der gesamten Militärausrüstung« vom gesamten Gebiet der Ukraine arbeite, teilte das Büro des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell am Donnerstag in Brüssel mit. Zuvor hatte Borrells Stellvertreter, Enrique Mora, den chinesischen Sondergesandten für die Ukraine, Li Hui, zu Gesprächen über eine politische Lösung im Ukrainekonflikt empfangen.

In dem Gespräch habe Mora mit Li die Möglichkeiten für einen »gerechten und dauerhaften Frieden« erörtert, hieß es weiter. Der EU-Vertreter habe betont, dass die Ukraine das Recht habe, sich selbst zu verteidigen, und dass die EU bereit sei, das Land »langfristig« zu unterstützen.

Mora und Li hätten vereinbart, »im Austausch zu bleiben« und weiter auf einen »belastbaren Frieden« in der Ukraine hinzuarbeiten.

Moskau und Peking unterhalten enge Beziehungen. China bemüht sich nach eigenen Angaben im Ukrainekonflikt um eine neutrale Position und um eine »politische Lösung«.

Bis heute hat Peking den russischen Angriff auf die Ukraine nicht verurteilt. Im Februar legte China einen Zwölfpunkteplan zur Lösung des Ukrainekonflikts vor, den westliche Staaten allerdings skeptisch betrachten.

Was heute passiert

  • Am heutigen Freitag wird Li im Rahmen seiner Europareise zu einem Besuch in Moskau erwartet. In den vergangenen Tagen war der Sondergesandte bereits nach Polen, in die Ukraine sowie nach Frankreich und Deutschland gereist.

jok/dpa/Reuters
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